
Wieder einmal Lektüre von der „anderen Seite“…
Eigentlich wollten wir mit unserem Hund einen Tagesausflug machen, aber da Madame am heutigen Tag – man glaubt es kaum! – einen Termin im Tattoo-Studio bekam, wurde der Ausflug auf Samstag verschoben. Also nehme ich mir die Lektüre weiter vor, mit der ich gestern Abend begann.
Auch in diesem sogenannten „Reportage-Roman“ taucht man in die Zeit der deutschen Revolution von 1918/20 ein. Erschienen ist das Buch erstmals im Jahre 1930. Auf den Verfasser komme ich nachher noch zu sprechen.
Das Buch beginnt damit, dass der Erzähler, der sich nicht namentlich nennt, zufälligerweise im Zug einen alten Kriegskameraden wiedertrifft, sein Name ist Wunderlich. Doch dieser Wunderlich ist kein Geringerer als der Verfasser Erich Knauf selbst, der hier aus der Distanz seine eigene Geschichte erzählen lässt.
Es beginnt in der Zeit kurz vor dem Waffenstillstand in Verdun. Auf der Höhe 304, rechts neben dem Toten Mann, kommt es zu einer Verbrüderung mit den Poilus, einer dem deutschen Graben gegenüberliegenden französischen Sappenstellung. Man besucht sich gegenseitig, tauscht Tabak gegen Ölsardinen und erneuert gemeinsam die Drahtverhaue. Als kurz vor Kriegsschluss der Befehl kommt, auf die Franzosen erneut das Feuer zu eröffnen, werden diese von Wunderlich gewarnt. Den Schilderungen nach ist Wunderlich selbst ein routiniertes Frontschwein.
Dann kommt ein Sprung in das Jahr 1920. Wunderlich besucht die sozialistische Heimvolkshochschule Tinz bei Gera, als es zum Kapp-Putsch kommt. Wunderlich hält es nicht länger auf der Schulbank und schließt sich den Arbeiterwehren an. Hier kommt das alte Frontschwein erneut zum Vorschein. Er organisiert und kommandiert, letztlich war er im Feld jahrelang Unteroffizier. Bei Gera gelingt es den linken Kräften, die Reichswehreinheiten ziemlich schnell zurückzuschlagen und sogar teilweise zu entwaffnen.
Wunderlich schildert, dass es sich bei den Reichswehreinheiten um Truppen ohne Kampferfahrung handelte, die mit Zeitfreiwilligen aufgefüllt waren. Die Motivation bei diesen Truppen war daher nicht sehr groß. Gefangene sagten aus, dass sie zur Reichswehr gingen, um nicht als Arbeitslose auf der Straße zu landen. Zudem war die Reichswehr nach dem Kriege gerade erst im Entstehen. Demgegenüber steckte in den Knochen derjenigen, die sich den roten Arbeiterwehren anschlossen, noch die Routine des Krieges, der noch nicht einmal anderthalb Jahre zurücklag. Aber Wunderlich bemängelt auch, dass viele der Roten disziplinlos sind. Sobald sie Hunger verspüren oder keine Lust mehr haben, werden einfach die Gewehre geschultert und ab geht‘s nach Hause.

Quelle: Archiv des Verfassers

Quelle: Archiv des Verfassers

Quelle: Archiv des Verfassers

Quelle: Archiv des Verfassers
Rote Stoßtrupps und Lumpenproletariat
Wunderlich wird schließlich zum Organisator und Anführer eines motorisierten roten Stoßtrupps. In den Schilderungen sind die Gegner immer Reichswehreinheiten, nie Freikorps.
Als Leser wird man nun auf viele militärische Unternehmungen des roten Stoßtrupps mitgenommen, die sich spannend lesen. Interessant ist zu erfahren, welch riesige Mengen von Kriegsmaterial zu dieser Zeit im Deutschen Reich noch im Umlauf sind, bei denen sich beide Seiten ausgiebig bedienen.
Wunderlich wird auch das Objekt der Begierde einer jungen Dame aus höheren Kreisen, die sich bei ihm einen „Kick“ holen will, wie man heute sagen würde. So schreibt er süffisant zweideutig:
Ob sie irgendeine romantische Vorstellung von einem Stoßtrupp-Führer hatte? Du meinst, dass sich das Wort Stoßtrupp bei ihr in eine romantische Vorstellung verwandelte? Kann sein. Vielleicht lockte sie auch nur das Abenteuer, das andere Milieu – oder hatte sie einmal gehört, die Roten wären in den Dingen der Liebe rücksichtslos und unbekümmert?
Bald kommt Wunderlich auch mit den Parteibonzen im Bratenrock in Konflikt, die nach dem zusammengebrochenen Putsch wieder ihre Posten und Pöstchen haben wollen und denen die proletarischen Haudegen nun über Nacht ein Klotz am Bein sind. So will man ihn dafür verantwortlich machen, dass einer aus den eigenen Reihen von Angehörigen seines Stoßtrupps irrtümlich erschossen worden sein soll.
Der Stoßtrupp wird aufgelöst, Wunderlich geht auf Wanderschaft. Sein Weg führt ihn über den Schwarzwald in die Schweiz, nach Italien bis ans Mittelmeer hinunter nach Griechenland.
Zurück in Deutschland, verschlägt es ihn zu Geigenbauern und Bogenmachern ins Erzgebirge. Hier sieht er, wie beschissen es den kleinen Handwerkern geht und wie diese ausgebeutet werden.
Und bald kommt es in Mitteldeutschland wieder zu einem roten Aufstand. Er wird zwar nicht namentlich erwähnt, aber wahrscheinlich handelt es sich hierbei um die Aktivitäten der Anarcho-Kommunisten um den berüchtigten Max Hölz.
Das alte Frontschwein in Wunderlich bricht wieder hervor:
Verdammt nochmal! Es war doch noch nicht alles zu Asche niedergebrannt! Mir zuckte es in den Gliedern. Ich wusste:
In vierundzwanzig Stunden hast du wieder eine Knarre in den Händen!
Es geht also wieder los. Einheiten mit Zeitfreiwilligen werden von den Roten am Anfang übertölpelt, aber bald merkt man auch, dass die Gegenseite immer professioneller wird.
Von der roten Bande, der sich Wunderlich anschließt, wird er bald enttäuscht. Es ist Lumpenproletariat, das in erster Linie Beute machen will. So wird eine von der Meute besetzte Villa unter der Regie einer gewissen „roten Lotte“ zu einem regelrechten Puff umfunktioniert. So sagt er über diese „Dame“:
Die rote Lotte hatte feudalen Fünfuhrtee. Sie tanzte mit einem kleinen Kerl, dessen knabenhafter Schopf wie betrunken zwischen den festen Brustbastionen seiner Partnerin lag. Die Lotte war ein gutgewachsenes, strammes Weibsstück. Das rotblonde Haar stand wildgelockt um ein zu derbes Gesicht. Ihre frechen Augen glühten, und sie sang zu der lauten Musik einer abgespielten Grammophonplatte einen Gassenhauer, der nicht ganz zu der Melodie, aber desto besser zu ihrer Hopserei passte:
Komm mit mir,
ich zeige dir,
Wie der Spargel steht…
Reichswehreinheiten machen dem ganzen Spuk bald ein Ende und der verhaftete Wunderlich wird von einem treuen Genossen, der schon während des Kapp-Putsches mit ihm zusammen gekämpft hat, aus der Haft befreit und somit womöglich vor der Erschießung gerettet.
Später erhält Wunderlich einen Brief seines Vaters, indem der Zustand der Arbeiterbewegung beklagt wird. Interessant ist hier ein Zitat von Friedrich Engels, welches in dem Brief Erwähnung findet und das sich mit dem Abschaum befasst, der sich einer roten Revolution allzu gerne anschließt:
Das Lumpenproletariat, dieser Abhub der verkommenen Subjekte aller Klassen, der sein Hauptquartier in den großen Städten aufschlägt, ist von allen möglichen Bundesgenossen der schlimmste. Dies Gesindel ist absolut käuflich und absolut zudringlich. Wenn die französischen Arbeiter bei jeder Revolution an die Häuser schrieben: „Tod den Dieben“ und manche auch erschossen, so geschah das nicht aus Begeisterung für das Eigentum, sondern in der richtigen Erkenntnis, dass man vor allem sich diese Bande vom Halse halten müsse. Jeder Arbeiterführer, der diese Lumpen als Garden verwendet oder sich auf sie stützt, beweist sich schon dadurch als Verräter an der Bewegung.

Quelle: Archiv des Verfassers

Quelle: Archiv des Verfassers

Quelle: Archiv des Verfassers
Erich Knauf – Vom Pressechef zum Angeklagten am Volksgerichtshof
Wie bereits erwähnt, ist der Hauptprotagonist Wunderlich kein Geringerer als der Autor Erich Knauf selbst. Im Jahre 1895 in Sachsen geboren, wuchs er in Gera auf. Sein Vater, ein Schneider, war ehrenamtlicher Parteisekretär der SPD. Knauf stand von 1915 bis 1918 im Feld und scheint es bis zum Unteroffizier gebracht zu haben. Er muss ein guter Soldat gewesen sein. Nach dem Krieg schloss er sich der USPD an, beteiligte sich an den Kämpfen während des Kapp-Putsches innerhalb der Arbeiterwehren und stellte einen Stoßtrupp auf. Später schloss er sich einem anarcho-kommunistischen Aufstand im Erzgebirge an.
Später wechselte er zur Volkszeitung in Plauen, ab 1928 erneuter Wechsel als literarischer Leiter zur Büchergilde Gutenberg nach Berlin. Ab 1933 arbeitete er als freier Schriftsteller und Feuilletonredakteur beim 8-Uhr-Abendblatt. Wegen der Kritik an einer „Carmen“-Aufführung, die von Hermann Göring protegiert wurde, kam er 1934 einige Wochen in den Konzentrationslagern Oranienburg und Lichtenburg in Schutzhaft.
Knauf wurde wohl aus dem Reichsverband der Deutschen Presse ausgeschlossen, verblieb aber weiterhin in der Reichsschrifttumskammer. Somit konnte er seine Pressearbeit fortsetzen. Er arbeitete als freiberuflicher Werbetexter und wurde dann Pressechef der Filmproduktionsgesellschaft „Terra Film“. Man sieht, trotz seiner linksextremistischen Vergangenheit führte er im Dritten Reich doch zunächst ein ziemlich ungestörtes und als Pressechef der Terra sogar ein gewisses privilegiertes Leben. Zudem schrieb er Schlagertexte, so unter anderem den Text zu dem Lied „Heimat, deine Sterne“, das für den Film „Quax, der Bruchpilot“ komponiert wurde und während des Krieges zu einem großen Publikumserfolg wurde.
Im März 1944 wurde Erich Knauf zusammen mit seinem Freund Erich Ohser, bekannt unter dem Pseudonym „e.o.plauen“, dem Zeichner der bekannten „Vater & Sohn“-Bilderwitze, von der Gestapo verhaftet. Haftgrund waren defätistische Äußerungen und Witze, die die beiden mehrfach in einem Luftschutzkeller gemacht hatten. Ein anwesender Offizier hatte sie angezeigt. Am 6. April 1944 wurde Knauf vom Volksgerichtshof unter dem Vorsitz von Roland Freisler zum Tode verurteilt und am 2. Mai 1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet. Erich Ohser beging einen Tag vor seinem Prozessbeginn in der Haft Suizid.
Wer sich für die Epoche der Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg interessiert und einen Blick auf die Aktivitäten der roten Seite werfen will, dem kann ich das flüssig geschriebene Buch, das mit Originalfotos aus der Zeit von 1918-20 illustriert ist, bestens empfehlen. Es ist als Nachdruck bei Amazon oder antiquarisch über Booklooker erhältlich.
Erstveröffentlichung in N.S. Heute #48