Der Rechtsstaat auf dem Prüfstand – Nach über 200 Jahren am Ende?

Nach besonders aufsehenerregenden Verbrechen sollen besonders verhasste Kriminelle „mit der ganzen Härte des Rechtsstaates bestraft werden“, andererseits sichert man beliebteren Angeklagten gnädigerweise „ein rechtsstaatliches Verfahren“ zu – so wird die Berufung auf den Rechtsstaat immer so hingebogen, wie es gerade passt.

Landläufig versteht man unter einem Rechtsstaat den Staat, wo Recht im Sinne des Gerechtigkeitsgefühls des jeweiligen Betrachters gesprochen wird. Man erhofft sich aber gefühltes Recht und bekommt nur ein Urteil, das ist es also nicht.

Die „Bundeszentrale für politische Bildung“ erklärt den Polizeistaat zum Gegensatz des Rechtsstaates, dabei kann sich auch massiver Einsatz der Polizei an Recht halten, das ist es also auch nicht.

Verteidiger der Demokratie verstehen den Rechtsstaat im Gegensatz zur Diktatur, dabei gab es schon Rechtsstaaten, bevor Demokratien modern wurden.

Was ist der Rechtsstaat wirklich?

Der Rechtsstaatsbegriff ist um 1800 im deutschen Sprachraum entstanden. Der Staatsrechtslehrer Lorenz Stein schrieb in den 1860er-Jahren: „Man muss zunächst davon ausgehen, dass Wort und Begriff des ‚Rechtsstaates‘ spezifisch deutsch sind. Beide kommen weder in einer nicht deutschen Literatur vor, noch sind sie in einer nicht deutschen Sprache korrekt wiederzugeben.“

Inhaltlich bedeutet der Rechtsstaat allgemein verbindliches Recht, meist in Gesetzen formuliert, das den Staat bei der Ausübung seiner Aufgaben an das Recht bindet. Dadurch verfügt der Staat über verbindliche Normen bei der Durchsetzung seiner Ziele und der Bürger kann verlässlich seinen Handlungsspielraum bei der Ausübung seiner Freiheiten einschätzen, so die klassische Definition.

Andererseits bedeutet der Rechtsstaat nicht, dass Recht im Sinne des landläufigen Rechtsgefühls gesprochen wird, wie schon am Anfang erwähnt. Zur Verdeutlichung: Wenn die Todesstrafe bei Ladendiebstahl gesetzlich festgeschrieben ist, sind die Hinrichtungen der Langfinger formell rechtsstaatlich.

Es gibt aber auch Rechtsstaaten, die nicht nur formell, sondern auch materiell, also inhaltlich Einfluss nehmen und zum Beispiel Hinrichtungen grundsätzlich verbieten. Dieser Unterschied zwischen formellem und materiellem Rechtsstaat beherrscht schon von Beginn an die Auseinandersetzungen darüber.

Rechtsstaatliche Grenzen

Der Rechtsstaat kann nicht allmächtig und allgegenwärtig sein, Revolutionen und die Entstehung neuer Verfassungen verdeutlichen, „dass es unmöglich ist, die ganze staatliche Existenz restlos in rechtliche Normen einzufangen, dass es auch Situationen gibt, in denen politische Gewalten verbindliche Entscheidungen treffen, ohne hierbei selbst an rechtliche Normen gebunden zu sein“, wie der Professor für Rechtsphilosophie Zippelius ausführt.

Die Vergänglichkeit von Verfassungen als Grundlage von Rechtsstaatlichkeit verdeutlichte der damalige französische Präsident General de Gaulle 1958, als er die gescheiterte Vierte Republik abwickelte: „Verfassungen sind wie Blumen und junge Mädchen: Sie haben ihre Zeit und verblühen“.

Einer der bekanntesten und wirkmächtigsten Staatsrechtler des 20. Jahrhunderts, Carl Schmitt, verdeutlicht die Grenzen des Rechtsstaats anlässlich des Vorgehens Hitlers gegen Röhm 1934 in einem umstrittenen juristischen Artikel wie folgt: „Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Missbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als Oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft. (…) Die Tat des Führers (…) war echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz.“

Falls sich nun jemand fragt, ob Staatsrechtsprofessor Carl Schmitt da nicht etwas zu dick aufgetragen hat, dem möchte ich Carl Schmitts Gegenfrage zu solchen Vorwürfen nicht verheimlichen: „Was war denn eigentlich unanständiger, 1933 für Hitler einzutreten oder 1945 auf ihn zu spucken?“

Waldsteins Büchlein

Um das Thema Rechtsstaat weiter zu vertiefen, habe ich für Euch ein neu erschienenes Büchlein von Thor v. Waldstein „Der Rechtsstaat nach seinem Ende“ aus der Reihe Kaplaken gelesen. Ein Euch bekannter Jurist sagte mir, dass der Preis von 10 Euro für einen in drei Stunden durchgelesenen rechtlichen Aufsatz überhöht ist.

Es geht über weite Teile um die Geschichte des Rechtsstaates, aber fundiert und belegt, wie von Waldstein gewohnt. Der Blick Waldsteins in die Geschichte bis zur Gegenwart ist recht interessant und ich werde einige Punkte für Euch kurz und knapp darstellen.

Diskussionen zum Rechtsstaats-Begriff im Dritten Reich

Es ist keine Überraschung, dass Waldstein, nach Darstellung der vordemokratischen Entwicklung des Rechtsstaats in der Kaiserzeit, mit dem von mir schon oben erwähnten Carl Schmitt in die Zeit der Weimarer Republik einsteigt.

Schmitt kritisiert 1928, dass der bürgerliche Rechtsstaat vor allem aus dem Schutz der Freiheit des Einzelnen und der Teilung der staatlichen Gewalten besteht und damit keine eigene politische Ordnungsidee entwickelt, er schreibt von „Methoden der Organisation von Hemmungen des Staats“ und einem „System von Kontrollen des Staats“.

1934 stellt Carl Schmitt den neuen „nationalsozialistischen deutschen Rechtsstaat“ so vor: „Die neue Rechtsstaatsidee geht nicht mehr vom Individuum, sondern vom Volk aus.“ So wurden also die Rechte des Einzelnen von den Rechten des deutschen Volkes ersetzt, die Gemeinschaft des Volkes sollte vom Rechtsstaat vertreten werden.

Dazu gab es – aus der heutigen antifaschistischen Sicht unglaublich und unbegreiflich – 1935 in der Aula der Berliner Universität eine öffentliche „Disputation über den Rechtsstaat“, deren „wissenschaftliches Niveau als bemerkenswert bezeichnet werden muss“, wie Waldstein schreibt. Es diskutierten öffentlich Günther Krauß, ein Doktorand Schmitts, und Otto v. Schweinichen, die sich mit Thesen und Gegenthesen einen Schlagabtausch über den Rechtsstaatsbegriff im Dritten Reich lieferten.

Dabei hielt Krauß den alten kaiserlichen und Weimarer Rechtsstaatsbegriff für unreformierbar und überholt, gemäß Schmitts oben dargestellter Kritik von 1928. Schweinichen plädierte aber für eine Weiterverwendung des Rechtsstaatsbegriffs, der bei Schweinichen eine deutliche Distanz zum bürgerlich-liberalen Verständnis von Freiheit und Gleichheit aufwies.

Im Nachwort zur anschließend veröffentlichten Disputation beendete Staatsrechtsprofessor Carl Schmitt den Streit und sprach sich für die Verwendung des Begriffs des „nationalsozialistischen deutschen Rechtsstaats“ aus, der ausdrücklich im Gegensatz zum bürgerlich-liberalen Rechtsstaat alter Art stand – inhaltliche materielle Rechtssicherheit im Sinne der Gemeinschaft des Volkes solle an die Stelle der formalen Rechtssicherheit des Bürgers treten. So war der alte Gegensatz zwischen materiellem und formellem Rechtsstaat entschieden.

Nach 1945

Auch nach 1945 kehrte man nicht mehr zum formellen Rechtsstaat zurück und gestaltete den Rechtsstaat immer mehr materiell mit Inhalten gefüllt, die bewusst ganz im Gegensatz zu den Inhalten des Dritten Reiches standen und stehen.

Der Start im Westen war recht holprig, denn „nicht die Besiegten von 1945 (…), sondern die westalliierten Besatzungsmächte prägten den in der ,Verfassung‘ festgeschriebenen Rahmen des zukünftigen Rechtsstaats“, wie Waldstein schreibt. An diesem Geburtsmakel änderte sich nach der Vereinigung 1990 nicht viel, da das Grundgesetz im Wesentlichen beibehalten wurde.

Der Richterstaat

Hüter des Rechtsstaats ist das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, das den materiellen Rechtsstaat inhaltlich immer mehr in ein Wertesystem transformiert, in einen heute alle Lebensbereiche beherrschenden Wertestaat.

Statt nur den Wortlaut des Grundgesetzes auszulegen, nehmen moralische Betrachtungen in den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts einen immer größeren Raum ein. Das Bundesverfassungsgericht gibt sich damit eine wachsende Deutungshoheit, sodass man von einer Machtverschiebung sprechen kann, da wesentliche Gesetze und Entscheidungen nicht von Regierung und Parlament, sondern von den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts über diese Gesetze und Entscheidungen abhängig sind – die wirklichen Entscheider sitzen in Karlsruhe.

Waldstein schreibt, der Souverän ist derjenige, der die Stufenleiter der Werte mit Inhalten füllt, der sein Wertefühlen so geltend machen kann, dass sich kaum jemand traut, Unwertes dagegen zu fühlen. So ist das Rechtsstaatsgebäude unter der Last dieser Werte gefährdet.

Der auch in der Nachkriegszeit einflussreiche Carl Schmitt sprach in diesem Zusammenhang von einer „Tyrannei der Werte“.

Der Parteienstaat

Die Richter des Bundesverfassungsgerichts werden vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt, also von den politischen Parteien, sodass die herrschenden Parteien die Macht über das höchste Entscheidungsorgan haben. Beweint wird dieser Vorgang nur, wenn unerwünschte, rechte, vielleicht sogar schon faschistische Oppositionen Mehrheiten erreichen und sich erdreisten, auch auf Verfassungsgerichte Einfluss zu nehmen.

Waldstein schreibt, dass die politischen Parteien, statt sich auf ihre Aufgaben zu beschränken, unter Mithilfe der von ihnen kontrollierten metapolitischen Instanzen (Medien, Universitäten, Amtskirchen, Gewerkschaften, Kulturbetrieb usw.) den Klangraum des Politischen in Deutschland nahezu lückenlos füllen, für sich beanspruchen und andere Stimmen zum Schweigen bringen.

Dazu kommt, dass Abgeordnetenkandidaten für Bundestags- und Landtagswahlen ausschließlich über die politischen Parteien aufgestellt werden und somit von den Parteien abhängig sind – sie sind weniger Vertreter des Volkes, sondern mehr Vertreter ihrer Partei; Abstimmungen in den Parlamenten sind nicht mehr von den Überzeugungen und vom Gewissen der Abgeordneten bestimmt, sondern von Parteibeschlüssen und Parteienkompromissen.

Wir sehen also, dass das Gewaltenteilungsprinzip aufgrund der Parteienallmacht praktisch aufgehoben ist, da es ausschließlich die politischen Parteien sind, die über die Besetzung des Personals in der Verwaltung, Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit entscheiden und so die Gewaltenteilung als zentrales Merkmal des Rechtsstaats aushebeln.

Lobbys und „pressure groups“

Hinter den Abgeordneten und den politischen Parteien wirken im Schatten mächtige wirtschaftliche Lobbyorganisationen, die ausschließlich ihre eigenen Interessen mithilfe von millionenschweren Budgets im Rücken durchsetzen.

Dazu kommen noch die „pressure groups“, die im wahrsten Sinne der Bezeichnung mit Druckmitteln besonders auf Parteien, Parlament und Regierung Einfluss ausüben, um ihre Forderungen als selbsternannte Hüter der Moral, des Klimas, der tausend Geschlechter oder anderer Lehren durchzusetzen.

Diese Lobbys und Gruppen befinden sich ganz außerhalb rechtsstaatlicher Kontrolle und haben trotzdem einen wesentlichen Einfluss auf den Staat.

Rechtsstaat der Zukunft

Nachdem wir mit Carl Schmitt und Thor v. Waldstein einen ausführlichen Blick in die Geschichte des Rechtsstaates geworfen haben, sehe ich zwei wichtige Punkte, die den Rechtsstaat der Zukunft bestimmen sollten.

Zum einen ist formell das wirklich allgemein für alle verbindliche Recht wichtig, das den Staat bei der Ausübung seiner Aufgaben an das Recht bindet, damit der Bürger verlässlich seinen Handlungsspielraum bei der Ausübung seiner Freiheiten einschätzen kann.

Heute beherrscht der hypermoralisch aufgeladene „Kampf gegen Rechts“ die gesamte Öffentlichkeit, beansprucht die alleinige Wahrheit und bringt kritische Stimmen zum Schweigen. Dabei wird immer öfter auch die Justiz von diesen Tendenzen erfasst, sodass der Handlungsspielraum des Bürgers bei Meinungsäußerungen immer mehr eingeengt beziehungsweise immer weniger berechenbar wird.

Zum anderen ist materiell inhaltlich der größte Wert auf die Verteidigung und Durchsetzung des Eigenen zu legen. Das Eigene der alteingesessenen Bürger und ihrer Gemeinschaft soll Vorrang haben vor heutzutage alles beherrschenden Werten wie Gleichheit und Menschenrechte für die ganze Welt, denn nicht die Welt, sondern unsere eigene Heimat, Abstammung und Kultur stehen an erster Stelle unserer Interessen.

Zu dieser Kultur gehört seit über 200 Jahren auch der Rechtsstaat, der sich heute immer mehr gegen das Eigene, gegen sich selbst richtet.

Erstveröffentlichung in N.S. Heute #46

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