Deutsche Geschichte im Osten – Entdeckungen im Grenzgebiet

Luftbild von Frankfurt (Oder) und der ehemaligen Dammvorstadt, heute als Slubice zum polnischen Staat gehörend

von Stefan Raven

Nein, die Stadtbrücke ist mit Sicherheit nicht die schönste Sehenswürdigkeit, die es in den Schwesterstädten Frankfurt (Oder) und Slubice zu sehen gibt. Aber sie ist wohl die interessanteste und sicherlich auch die wichtigste. Denn Slubice hieß nicht immer so, war einst deutsch, nannte sich bis Mai 1945 Dammvorstadt und war ein Stadtteil von Frankfurt (Oder). Ich begab mich auf die Suche nach deutscher Geschichte im polnischen Staatsgebiet, unmittelbar hinter der heutigen Grenze.

Meine Erkundungswanderung beginnt am Bahnhof Frankfurt (Oder) und führt mich über historische Sehenswürdigkeiten wie der Marienkirche entlang von altstädtischen Straßen vorbei an teilweise zerstörten und verfallenen Häusern und Anlagen, wie ich sie aus meiner Kindheit in den späten 80ern und frühen 90ern noch aus Lübeck kenne. Eine Verbundenheit ist sofort da. Schließlich gelange ich so zum Ufer der Oder, dem eigentlichen Beginn meines Tagesausflugs.

Die deutsche Seite

Die erste Station ist die sogenannte „Friedensglocke“, welche ein Baudenkmal für die Unterzeichnung des Vertrages über die Oder-Neiße-Grenze in Folge des Görlitzer Abkommens darstellt. Die kommunistische DDR hatte diese Grenze bereits 1949 akzeptiert. Am 27. Januar 1953 wurde die Glocke vom Präsidenten des „Deutschen Friedensrates“, Prof. Dr. Walter Friedrich, als Symbol für den Frieden positioniert. Es heißt, sie sei „ein Symbol des Friedens und der Freundschaft zwischen dem polnischen und dem deutschen Volk“. 2002 wurde beschlossen, die Glocke von der Bischofstraße zum Holzmarkt zu versetzen. Am 2. Februar 2011 wurde das Glockenhaus entfernt und anschließend saniert. Am 20. August 2011 wurde die Glocke samt Stuhl an die Oderpromenade verlegt. Dort wird sie auch heute noch traditionell am 1. September, dem Weltfriedenstag, geläutet.

Die Friedensglocke an ihrem heutigen Standort an der Oder
© Stefan Raven

Weiter geht es zur Stadtbrücke. 1253 bekam Frankfurt (Oder) von Johann I. Markgraf von Brandenburg das Stadtrecht verliehen. Wie Frankfurt zu demselben Namen wie die wohl bekanntere Metropole Frankfurt (Main) kam, ist leicht erklärt: Kaufmänner wurden bis ins Mittelalter hinein allgemein oft als Franken bezeichnet. Furt ist eine seichte Stelle eines Flusses, die das Überqueren gestattet. Und so entstand der Name Frankfurt.

Die Brücke selbst hat ihren Ursprung im Jahr 1819, als die hölzerne Jochbrücke fertiggestellt wurde. 1895 wurde diese durch die massive Bogenbrücke ersetzt. Ein weiterer Neubau erfolgte 1952, dann ein weiterer 2002. Die Brücke von 1895 wurde auf Befehl Adolf Hitlers vom 18. April 1945, die Dammvorstadt aufzugeben, am folgenden Tag von der sich zurückziehenden Wehrmacht gesprengt. Dadurch wurde auch die Telefon-, Gas- und Wasserversorgung der Dammvorstadt gekappt. Die 129. Schützendivision der sowjetischen 33. Armee konnte die Dammvorstadt danach kampflos besetzen. Zuvor flog die Sowjetarmee zwischen dem 20. und 22. April 1945 stundenlange Luftangriffe gegen Frankfurt und warf dabei auch Bomben ab, die diese zuvor von den Deutschen erbeutet und mit russischen Zündern versehen hatte. Ab dem 8. Mai kehrten die ersten deutschen Zivilisten in die Dammvorstadt zurück. Seit dem 15. Mai 1945 trägt die ehemalige Dammvorstadt offiziell den Namen Slubice, welches sich von der ehemaligen slawischen Siedlung Zliwice ableitet. Am 15. Juni 1945 lebten einem polnischen Bericht zufolge 8.000 Deutsche und nur 80 Polen im „Bereich Slubice“, wobei ungeklärt ist, welches Gebiet damit gemeint ist. Ganz Frankfurt oder nur die Dammvorstadt? Die polnischen Ansprüche richteten sich damals teilweise bis zur Elbe.

Ich überquerte die Brücke und kam damit in heutiges polnisches Staatsgebiet. Keine großen Kontrollen, es war einfach, als würde man eine Brücke überqueren und in ein anderes Stadtgebiet eintauchen. Außer dem Ortsschild mit der Aufschrift „Slubice“ und den andersfarbigen Straßenschildern ließ nicht viel vermuten, dass man sich nun in einem anderen Land befindet. Die meisten Beschriftungen von Häusern und Firmen sind auch heute noch auf Deutsch, und die Aufschrift auf Imbissen wird zuerst in Deutsch und danach erst in polnischer Sprache verfasst – wenn überhaupt. Die ehemalige Dammvorstadt lebt klar vom deutschen Tagestourismus. Aufschriften auf kleinen Geschäften mit „Alkohol, Zigaretten, Kaffee und Feuerwerk“ zeigen, dass man da alles kriegt, was man für wenig Geld braucht.

Der Autor an einem polnischen Grenzpfahl entlang der Oder
© Stefan Raven

Die polnische Seite

Meine erste Station auf polnischer Seite ist das Stadion mit einem unaussprechlichen polnischen Namen, das früher „Stadion an der Kleisthöhe“ hieß und anschließend „Ostmarkstadion“. Die Bezeichnung „Ostmark“ wurde für verschiedene Grenzregionen östlich eines deutschen Gebietes zu verschiedenen Zeiten verwendet. Darunter waren auch die Provinzen Posen und Westpreußen, die von 1792/93 bis 1919 zu Preußen gehörten. Ebenfalls gab es die Niederschlesische Ostmark, die Brandenburgische Neumark und andere Ostmarken. Der wohl bekannteste Vertreter ist die Republik Österreich, die von 1939 bis 1942 offiziell so bezeichnet wurde.

Das Stadion wurde 1914 dort erbaut, wo sich seit Ende des 19. Jahrhunderts Frankfurts ältester Turnplatz befand. Russische Kriegsgefangene des Ersten Weltkrieges wurden zur Arbeit für das neue Ostmarkstadion herangezogen. Nahe lag das Kriegsgefangenenlager Gronefelde, von wo aus die Arbeiter kamen. Die Fertigstellung des Neubaus erfolgte 1927, wonach auch die Straßenbahnlinie von Frankfurt bis zum Stadion verlängert wurde.

1932 sprach dort Adolf Hitler auf einer kleinen Tribüne bei einer Parteiveranstaltung der NSDAP. Im Juli 1933 fand ein Treffen der lokalen SA im Stadion statt. 2014 wurde das Stadion in die Denkmalliste der Woiwodschaft Lebus (polnischer Verwaltungsbezirk) aufgenommen.

Als Vorbild für das Stadion dienten die Arkaden des Amphitheaters in Aachen und das als Olympiastadion geplante „Deutsche Stadion“ im Grunewald (Berlin). Unter den Arkaden befanden sich damals Cafés und Restaurants. Ursprünglich gab es nur Stehplätze, die bis heute teilweise in Sitzplätze umgewandelt worden sind.

Aktuell wird das Stadion von einem Amateurfußballverein und einem Leichtathletikclub genutzt. Als ich vor Ort war, gab es gerade eine Rasenpflege. Ich ging an den offenen Pforten vorbei, doch vom Haupteingang aus gab es leider kein Reinkommen.

Meine nächste Station ist die Ruine des Kleistturms. Der Turm wurde 1892 zum Gedenken an den 1759 auf dem Schlachtfeld gefallenen Major und Dichter Ewald Christian von Kleist als Aussichtsturm auf dem Berg Kleisthöhe hinter dem Ostmarkstadion der Dammvorstadt von Frankfurt errichtet. Der Hintergrund dieser Geschichte ist sensationell:

Am 11. und 12. August 1759 fand in dem Gebiet der heutigen Ruine des Kleistturms eine Schlacht statt, in der der preußische König Friedrich II. seine schwerste Niederlage im Siebenjährigen Krieg erlitt. Eine goldene Tabakdose, die eine Bleikugel abhielt, rettete sein Leben. Nicht verschont blieb Ewald von Kleist, der Verfasser der epischen Naturdichtung „Der Frühling“. Am 24. August 1759 erlag Ewald Christian von Kleist seinen schweren Verletzungen in Frankfurt (Oder) und wurde auch dort beigesetzt. An ihn erinnerte der 1892 der Öffentlichkeit übergebene Kleistturm. Auf seiner Aussichtsplattform war eine Bronzetafel mit Orientierungspfeilen zu den Brennpunkten der Schlacht bei Kunersdorf angebracht. Der 21 Meter hohe Turm mit dazugehöriger Gaststätte war ein beliebtes Ausflugsziel. Im Februar 1945 wurde er von der Wehrmacht gesprengt. Es ist geplant, den Turm wieder originalgetreu aufzubauen. Davon ist Stand Februar 2025 allerdings nichts zu sehen, zumal sich in 200 Meter Entfernung ein kommerzieller Aussichtsturm mit Fahrstuhl befindet.

Ich fand vor Ort die Ruinen des einst sehr großen Turms wieder. Der Ort zeigt von der Größe des einstigen Denkmals. Logischerweise wurde dieser von der Wehrmacht nach deren Rückzug 1945 gesprengt, da er eine gute Aussicht über das jenseits der Oder gelegene Gebiet gab. Zuvor konnte man auf der Aussichtsplattform sehen, wo welche Gegebenheiten der Schlacht von 1759 stattfanden.

Historische Ansichtskarte des Kleistturms
Quelle: Landesgeschichtliche Vereinigung für die Mark Brandenburg e.V.

In der polnischen Wildnis auf Wolfsspuren

Und ab geht es in die polnische „Wildnis“… Denn anschließend beschloss ich, eine Runde südliche von Slubice zu gehen, wo sich das Naturschutzgebiet namens „Auenwald von Slubice“ befindet. Denn Natur und Wald müssen auf meinen Wanderungen einfach stattfinden. Das erste Stück ging es auf einer gut gepflegten Landstraße entlang, die weder Fuß- noch Radwege hatte. Das erinnerte mich sehr an das heimische Brandenburg, wo das gang und gäbe ist. Entlang der Straße ging es so weit Richtung Süden, bis ich auf eine Bahnlinie stieß. Ich bog rechts in den Auenwald ein und… vor mir lagen ca. 40 Wodkaflaschen, die hier illegal entsorgt wurden. Mein Gedanke war: „Morgens, halb zehn in Polen.“ Nun war es aber schon gegen Mittag, und ich weiß natürlich, dass es ähnliche Bilder mit Bierflaschen auch in Deutschland gibt, trotzdem war dies ein „Kulturschock“, über den ich einfach schmunzeln musste. Wie die Deutschen für ihren Bierkonsum, sind die Polen sicherlich für ihren Wodkakonsum bekannt. Jede Nation hat so ihre Laster.

Die Strecke an sich erschien mir erstmal, als wäre sie seit Jahren nicht mehr begangen worden. Nachdem ich einem Weg folgte, der als solcher nicht erkennbar war, gelangte ich über einen umgefallenen Baum und entlang von hunderten Metern Plastikfolie zur Oder. Dort traf ich in erster Linie Graureier, Kraniche und Enten an. Jedoch fand ich auch schnell die Spuren des meistgefürchteten Prädators in Deutschland, dem Wolf.

Seine Fußspuren sind recht leicht zu erkennen, wenn man weiß, worauf man achten muss. An der Spur erkennt man ein Einzeltier am sogenannten Doppeltrittsiegel. Das heißt im Groben, die Spuren der linken und rechten Körperseite sind auf einer Linie. Der Hund dagegen „schlingert“. So kommen die Wölfe also nach Deutschland, sie überqueren die Oder. Ebenfalls erkennt man Einzelspuren daran, dass die Krallen deutlich ausgeprägter sind als beim Hund und sich zwischen den Ballen ein geradliniges X zeichnen lässt. Bei einem ausgewachsenen Tier haben die einzelnen Trittsiegel ungefähr die Größe einer menschlichen Handfläche. Entsprechen die Spuren den oben genannten Kriterien, sind aber kleiner, stammen sie entweder von einem Welpen oder Jährling (Wölfe bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres) oder von einem Fuchs.

Viele Wolfsspuren begegneten dem Autor bei seiner Wanderung im Auenwald von Slubice
© Stefan Raven

Zahlreiche Grenzsteine in den Farben Rot und Weiß kennzeichnen den Weg, alle mit der Aufschrift „Polska“. Auf der gegenüberliegenden Uferseite erkennt man in der Ferne Grenzsteine in Schwarz-Rot-Gold, welche das derzeitige deutsche Staatsterritorium kennzeichnen. Für mich als Nachkommen von memelländischen Bauern scheint es obskur, dass noch vor 100 Jahren beide Seiten des Ufers Deutschland waren. Irgendwann in naher Zukunft werde ich noch einmal ins Memelland fahren und versuchen, den Hof meines Großvaters zu finden, beziehungsweise die Überreste davon. Es war die Waldschänke in Kebbeln, welche mit einem landwirtschaftlichen Betrieb gekoppelt war. Nach der Invasion der Sowjets und der damit verbundenen Vertreibung, welche meine Familie nach Lübeck verschlug, wurde diese zur Kolchose und ist in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts abgebrannt. Durch Kontakte zu Heimatforschern der Ostgebiete des Deutschen Reichs konnte ich den ungefähren Standort ausfindig machen.

Nachdem ich an der Oder kilometerweit durch den Matsch entlang des angrenzenden Waldes gelaufen bin, kam ich endlich zu einer freien Sicht auf eine Art Wiesenlandschaft. Raben prägten das Bild. Hunderte von Krähen und Raben ließen sich dort auf bestimmten Stellen nieder. Wolfsspuren gab es trotz der Ortsnähe zu Slubice immer wieder, teilweise folgten neuere Spuren den älteren. Auch Müll wurde dort illegal entsorgt, sodass dieser die Wölfe eventuell zusätzlich anlockte. Wir sprechen hier von einer Ortsnähe von unter 400 Metern – erinnern wir uns an die etymologische Bedeutung des Namenbestandteils „Furt“ in „Frankfurt“! Eine seichte Wasserstelle, die leicht zu überqueren ist. Also auch für die Vierbeiner. Dann kam ich nach langer Zeit und zahlreichem Matsch, den ich an meinen Wanderschuhen mitschleppte, auf eine Straße. Diese führte mich wieder direkt zur Stadtbrücke. Auf deutscher Seite gab es zahlreiche Polizeikontrollstellen, diese ließen mich aber ohne Kontakt passieren. Ich sah wohl nicht nach Drogen und Schmuggel aus.

Es gibt in Sachen Frankfurt/Slubice noch viel zu entdecken, ich empfehle ausdrücklich Wanderungen in dieser Region. Auf der Wander-App Komoot heiße ich „Raven“, dort könnt Ihr die Tour nachlaufen. Besser wäre noch, wenn Ihr Eure eigenen Touren machen würdet, um deutsche Geschichte im Osten zu beleben. Macht das Beste draus, Ihr könnt es!  

Erstveröffentlichung in N.S. Heute #47

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