Nietzsche – Umwertung aller Werte: Der Kern seiner Philosophie

Nachdem ich in der Ausgabe #41 einen Überblick über Nietzsches Gedankenwelt geboten habe, komme ich jetzt zum eigentlichen Kern seiner Philosophie, zur Umwertung aller Werte. Nietzsches Ausführungen beschreiben nicht nur die bereits stattgefundenen negativen Umwertungen aller Werte, die man auch als Entwertungen betrachten kann, er fordert aktives Eintreten für eine erneute Umwertung aller Werte.

Werte sind die Grundlage von Moralvorstellungen und sind das Ergebnis von Tradition, Religion und Zusammenleben. Innerhalb dieser Werte legt jeder seine persönlichen Schwerpunkte und Abweichungen, die Grundwerte sind aber allen gemeinsam – natürlich vorausgesetzt, dass man eine gemeinsame kulturelle Basis hat.

Die Bedeutung von Werten und Moralvorstellungen als Beweggrund und Triebfeder für Handlungen und politische Entscheidungen soll nicht unterschätzt werden, weil Werte und Moralvorstellungen üblicherweise nicht hinterfragt werden, deswegen bilden sie unsichtbare Grenzen der Handlungsfreiheit, auch bei Menschen, die sich vollkommen frei in ihren Entscheidungen wähnen.

Nietzsche untersucht, wie sich die Werte und die Moral im Laufe der Geschichte verändert haben und welchen Einfluss sie auf die europäische Kultur hatten und gegenwärtig haben.

Ich habe einige Grundgedanken Nietzsches zur Moral bereits in der Ausgabe #30 im Artikel „Missbrauch der Moral“, und Arnold Gehlens Gedanken dazu bereits in der Ausgabe #32 im Artikel „Hypermoral“ ausführlich beschrieben. Ich lasse diese zum Verständnis notwendigen Beschreibungen hier stark verkürzt einfließen.

Aristokratische Moral in der Antike

Aristokratische Moral in der Antike

In der ältesten Geschichte der Menschen gab es keine moralischen Maßstäbe, Handlungen wurden einfach nach ihrer Wirkung beurteilt und nicht nach der vermuteten Absicht des Handelnden. Auf die heutige Zeit übertragen, würde man zum Beispiel die Bombardierung von Städten als Massentötung beurteilen und nicht nach der angeblich guten Absicht der Bomber.

In der Geschichte Europas bis zum Aufkommen des Christentums, also auch bei den antiken Griechen und Römern, herrschte dann die „aristokratische Moral“ vor, wie sie Nietzsche bezeichnet, die Moral der Macher.

Das ist die Moral der Entscheider und Lenker, die Gemeinwesen und Hochkulturen aufbauen, Wettbewerb, Stärke und Schönheit fördern, Kriege führen und die Wirtschaft lenken. Die Macher betrachten sich ganz klar als die Guten, was angesichts der Leistungen auch naheliegend ist, hegen aber keinen Groll oder Hass gegen Mittelmaß, Kleingeistigkeit und Gewöhnlichkeit von Untertanen – man hält Abstand, aber auf beiden Seiten ist nichts „böse“ in dieser aristokratischen Moral, jeder wirkt an seinem Platz.

Warum erscheint uns diese alte Moral heute unmenschlich und herablassend, obwohl diese Moral die beeindruckendsten und besten Leistungen der Menschheitsgeschichte hervorgebracht hat? Wie konnte es zu einer solchen Umkehr der Werte kommen?

Sklavenmoral im Christentum

Die Antwort ist einfach: Mit der Verbreitung des Christentums im Römischen Reich trat eine zweite Moral auf den Plan, die „Sklavenmoral“, wie Nietzsche sie bezeichnet, der ein Umsturz gelungen ist.

Erstmal ist es so, dass auch jeder Untertan, nicht nur die Aktiven und Mächtigen, nach Höherem strebt, natürlich im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten. Da dies nur eingeschränkt gelingen kann, weil die Mächtigen zu mächtig und die eigenen Fähigkeiten zu begrenzt sind, kam das von den Mächtigen verfolgte frühe Christentum auf einen simplen, aber genialen Trick, die Umkehr der Werte:

Ist der Schwache in der aristokratischen Moral der Einfache, der Mittelmäßige, so schwingt er sich bei der Werteumkehr zum Guten, indem er die ursprünglichen Mächtigen als die Bösen bezeichnet.

Der in der aristokratischen Moral keine Rolle spielende Begriff des „Bösen“ ist der mit dieser neuen Sklavenmoral eingeführte neue Begriff, der die Herrscher disqualifiziert und die unterlegenen frühen Christen zu den neuen Guten macht.

Das gesamte Christentum ist durchsetzt von der Vorstellung, dass plötzlich der Geringe, der Kranke, der Einfache – Diskriminierte würde man heutzutage sagen – das Sinnbild des absolut Guten ist. Es ist „der Gesamt-Aufstand alles Niedergetretenen, Elenden, Missratenen, Schlechtweggekommenen“, wie Nietzsche schreibt.

Der revolutionäre Vorwurf des Bösen und die Selbstdarstellung als das Gute im Christentum vollzieht die vollkommene Umkehr der Werte und befähigt die Anführer der Sklavenmoral zur Macht, so einfach ist das nach Nietzsche.

Sklavenmoral nach dem Tod Gottes

Die christliche Religion mit ihren jahrtausendealten Erzählungen verlor in der neuen Zeit der Bildung und wissenschaftlicher Erkenntnisse zu Natur und Welt das Interesse der Gläubigen – die Menschen haben Gott getötet, wie Nietzsche spektakulär formuliert.

Im Zusammentreffen des Niedergangs der christlichen Religion mit dem entstehenden Massenwohlstand lässt sich der einzelne Europäer in der Masse der Jäger nach Reichtum und Konsum allzu leicht einreden, dass nach dem Verschwinden Gottes und anderer Instanzen er selbst und nur er selbst verantwortlich sei für das Schicksal und das Wohlergehen der gesamten Menschheit und der Welt. Und dass er damit schwere moralische Verpflichtungen für alle Armen, Entrechteten und Diskriminierten auf der ganzen Welt trage. Diese moralischen Verpflichtungen sollen die Europäer nötigen, sich für alles und jeden auf der Welt einzusetzen, nur nicht für die eigenen Interessen.

Dazu kommt, dass statt der christlichen Behauptung der auf alle Menschen lastenden Erbsünde, jetzt die Verbrechen der Vorfahren für eine Erbschuld sorgen. Eine neue Spielart der Sklavenmoral ist entstanden.

Die neuen Herrscher sind nicht mehr christliche Würdenträger und Fürsten, es sind die Anführer des Linksliberalismus und Kulturmarxismus, die die Mehrheit im kulturellen, staatlichen und staatsnahen Betrieb stellen und die korrekten Werte und Moralvorstellungen innerhalb enger Grenzen diktieren.

Hypermoralische Totalüberwachung nach dem Tod Gottes

Warum lässt man sich das gefallen?

Die Frage drängt sich auf, warum Menschen sich auf Werte und Moralvorstellungen überhaupt einlassen, die ihren natürlichen Interessen und ihrem Überlebens- und Durchsetzungstrieb offensichtlich vollkommen entgegenstehen. Dafür gibt es verschiedene Gründe:

– Allmacht der herrschenden Moral

Die heutigen linksliberalen und kulturmarxistischen moralischen Instanzen und Moralwächter sind genauso rücksichtslos wie die mittelalterliche Inquisition, sie haben durch die Medien sogar viel bessere Überwachungsmöglichkeiten. Nur die öffentlichen Verbrennungen wurden ersetzt durch die vollständige Vernichtung der Existenzen der Beschuldigten, sie werden in den Medien öffentlich an den Pranger gestellt, es kommt zur Entlassung, wirtschaftlicher Vernichtung und Verfolgung ganzer Familien.

So ist es kein Wunder, dass viele die Missstände zwar erkennen, aber angesichts der drohenden Vernichtung lieber schweigen. Nietzsche schreibt: „Die Furcht ist … die Mutter der Moral.“

– Aggression gegen sich selbst

Nach Nietzsche wird der urmenschliche Instinkt zur Aggression und Gewalt in der heutigen Gesellschaft nicht in nützliche Bahnen gelenkt, sondern vollkommen unterdrückt und führt zur Umlenkung der Aggression gegen sich selbst, zu einer masochistischen Selbstzerstörung.

– Intellektualisierung

Der natürliche Überlebens- und Durchsetzungswille wird heutzutage vergeistigt, intellektualisiert, und verliert dadurch die vitalen Ziele aus den Augen, sodass nur noch die vorgegebene Moral gelebt wird. Diese Intellektualisierung wird noch hübsch dekoriert mit angeblich vernünftigen wissenschaftlichen Argumenten, die wiederum von den kulturmarxistischen Hochschulen zielgerichtet produziert werden.

– Neid, Vergeltung und Selbstbestätigung

Es ist eine inzwischen allgemein bekannte Tatsache, dass gerade die schärfsten Verfechter der heutigen Sklavenmoral keine oder nur eine dürftige Ausbildung und ansonsten auch keinen Erfolg im Leben vorweisen können. Ohne diese aggressive Vertretung der Sklavenmoral und die genaueste und schärfste Verfolgung aller Abweichungen hätten sie nichts.

So ist nach Nietzsche der Wunsch nach Vergeltung ein Zug der menschlichen Seele, der zusammen mit der Selbstbestätigung durch Verfolgung anderer, einen befriedigenden Ausgleich für die vom Neid zerfressene Seele schafft.

– Schwäche der Starken

Zu guter Letzt tragen aber auch die Erfolgreichen und Starken im Leben zum Teil selbst die Schuld. Durch die Tarnung der üblen Sklavenmoral hinter angeblich gönnerhaften und großherzigen Haltungen, wird bei denen, die mitten im Leben stehen, Neugier und Mitgefühl erweckt, und man öffnet sie für die Moral ihres Untergangs.

Nietzsche zeigt uns, dass hinter großherzigen und mitleidigen Werten immer Menschen und Gruppen stecken, die bestrebt sind, ihre eigenen Interessen durchzusetzen, um am Ende über andere zu siegen.

Die neuen Werte

Großes Denken kommt oft aus der Krise, deswegen ist die Zuversicht berechtigt, den Untergang Europas doch noch abwenden zu können. Gerade Nietzsches Philosophie ist bestens zur Unterstützung geeignet, weil er keine starre Theorie vorgibt, sondern auffordert, eigenständig und beständig weiterzudenken und sich in der Krise nicht beirren zu lassen.

Bei alledem bleibt bei Nietzsche aber die Frage nicht eindeutig beantwortet, ob eine erneute Umwertung aller Werte zur Rettung Europas die antiken Werte der aristokratischen Moral wieder zur Geltung bringen soll. Realistischer ist es, den übermenschlichen zukünftigen Rettern Europas die Auswahl der Werte und der neuen Ordnung zu überlassen, schließlich haben sie als Macher und Kämpfer auch nach der antiken aristokratischen Moral jedes Recht dazu.

Mit Nietzsche aktiv in die Zukunft

Nietzsches sagte voraus, dass sein Werk erst 100 Jahre nach seinem Tod seine Wirkung voll entfalten wird, weil dann erst – also jetzt – die schädlichen Wirkungen der neuen Sklavenmoral nach dem Niedergang des Christentums deutlich werden. Wie treffend diese Einschätzung war, sehen wir daran, dass heute die letzten Werte der europäischen Kultur wie zum Beispiel Familien und nationale Identitäten zerstört werden, so wie es Marx schon im Kommunistischen Manifest von 1848 gefordert hatte.

Nietzsches Werk fordert geradezu auf, Mut aufzubringen und mit einer erneuten Umwertung aller Werte dem Leben einen Sinn zu geben, „einen neuen Sinn in das sinnlos Gewordene zu legen“, das auf den Kopf gestellte niedergehende heutige Europa wieder aufzurichten, das ist das Ziel.

Dieses Ziel kann nur mit eigenen Mitteln erreicht werden, die in Form des Übermenschen optimiert werden müssen. In Selbsterkenntnis über die eigenen Schwächen und Stärken und konzentriert aufs Wesentliche, soll jeder daran arbeiten, seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten zu entfalten und zu verbessern, um damit bei der Durchsetzung der eigenen Interessen das Menschenmögliche auszuschöpfen.

Es ist diese wirklichkeitsnahe Lebensführung bei ständiger Kampfbereitschaft, ein heroischer Realismus, der die Zukunft gestalten kann.

Christian Malcoci

Das Denken eines der bekanntesten Philosophen der Welt in einer Artikelreihe für tausende Leser auf wenigen Seiten zu komprimieren, ist keine einfache Sache. Deswegen freue ich mich über Kritik oder Anmerkungen zum Artikel an: christian.malcoci@protonmail.com

Erstveröffentlichung in N.S. Heute #42

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