Stalins jüngste Opfer – Die Geschichte der Wolfskinder

von Gastautor Michael Stoller

Der Begriff „Wolfskinder“ ist ein Phänomen, welches immer wieder in der Geschichte auftaucht. Man denkt vielleicht an die Gründer Roms, Romulus und Remus, die jedenfalls nach der Überlieferung von Plutarch durch eine Wölfin am Tiber aufgezogen wurden und dann 753 v. Chr. Rom gründeten.

„Wolfskinder“, um die es uns hier geht, nennt man jene ostpreußischen Kinder, die in den Jahren 1945-1948 etwa zwischen 3 und 16 Jahre alt waren und mit einem Elternteil, einem fremden Erwachsenen oder auch ganz allein auf sich gestellt (als Vollwaisen oder getrennt von den Eltern) zu Fuß oder mit Güterzügen überwiegend in litauische Städte und Dörfer kamen. Ihre Zahl ist nicht gesichert, aber man geht von etwa 20.000 Kindern aus. In der Zeit, nachdem die Russen Ostpreußen überrollt hatten, fuhren sehr viele Züge von Westen nach Osten, mit Industriegütern und sonstigen Vermögensgegenständen aus Deutschland, die man als Beute abtransportierte. Auch wenn die Sowjetunion die Haager Landkriegsordnung nicht ratifiziert hatte, galten viele ihrer Bestimmungen gleichwohl als Gewohnheitsrecht, und daher sind ungeachtet der (politischen) Rechtfertigungsversuche der Sowjetunion sowie der Praxis westlicher Siegermächte wenigstens die Plünderungen an der Zivilbevölkerung zweifellos als Kriegsverbrechen zu werten.

Das Bild der Wolfskinder hat Andreas Kuhnert, ein Oppositioneller in der DDR und später Mitglied des Landtages von Brandenburg, exemplarisch zusammengefasst. Anlässlich eines Besuchs der Kurischen Nehrung 1989 in Schwarzort (litauisch Juodkrante) fand er in einem Laden ein Buch von Ruth Kibelka mit dem Titel „Wolfskinder. Grenzgänger an der Memel“. Und da fand er Geschichten wie diese: „Plötzlich stand die achtjährige Schwester mit dem sechsjährigen Bruder allein da, ohne Schutz, ohne Haus, ohne Nahrung. Ohne auch nur einen Menschen. Zwischen Panzern und Soldaten. Und keinen rührte das. Jeder hatte mit sich zu tun. Und dann nahm die Schwester den Bruder an der Hand, ging über die Memel, um vielleicht bei litauischen Bauern Hilfe und Zuflucht zu finden.“

Die Lage in Ostpreußen 1945

Noch bis in den Sommer 1944 galt Ostpreußen als sicher. Während in anderen Gebieten des Deutschen Reiches ein furchtbarer Bombenkrieg gerade auch gegen die Zivilbevölkerung geführt wurde, war Ostpreußen im Gegenteil ein beliebtes Ziel der Kinderlandverschickung. Dabei versuchte das Reich auf Initiative von Adolf Hitler, vielen Kindern ab 10 Jahren aus besonders gefährdeten Gauen eine Kindheit und Jugend frei von alliiertem Bombenterror zu ermöglichen.

Schulklasse in Ostpreußen 1944

Das bombardierte Königsberg

Ende 1944 begannen die Engländer, mit der Royal Air Force die ostpreußische Hauptstadt Königsberg zu bombardieren. Die Sowjets trugen allerdings zunächst noch keinen erfolgreichen Großangriff vor. Immerhin gaben vorübergehende Eroberungen der Sowjets in den Regionen Goldap und Gumbinnen (Ostpreußen), aber auch Ortschaften in Pommern und Schlesien eine Vorahnung auf Bestialitäten, die in der Geschichte des Krieges bis dahin unbekannt waren. Der amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan beschrieb die Vorgänge später wie folgt: „Die Russen fegten die einheimische Bevölkerung vom Erdboden in einer Art, die seit den Tagen der asiatischen Horden kein Beispiel hat.“

Bestialisch durch Rotarmisten getötete deutsche Kinder und Zivilisten

Diese Verbrechen, welche unter anderem kleine Kinder zu Waisen machte, die in dem ganzen Chaos dieser Tage dann auf sich allein gestellt waren, wurden durch eine beispiellose Propaganda befördert. Einen großen Bekanntheitsgrad erreichten vor allem die Hasstiraden des russisch-jüdischen Schriftstellers und Journalisten Ilja G. Ehrenburg, einerseits wegen der Verbreitung unter den Rotarmisten, aber nicht minder wegen ihrer unmenschlichen Skrupellosigkeit, die offen mit Mordlust prahlte:

  • „Wenn du einen Deutschen getötet hast, töte noch einen – es gibt für uns nichts Lustigeres als deutsche Leichen. Zähle nicht die Tage. Zähle nicht die Kilometer. Zähle nur eins: die von dir getöteten Deutschen. Töte den Deutschen! – das bittet die alte Mutter. Töte den Deutschen! – das fleht das Kind. Töte den Deutschen! – das ruft die Heimaterde. Verfehle nicht das Ziel. Lass‘ ihn nicht entgehen. Töte!“
  • „Wir werden töten. Wenn du nicht mindestens einen Deutschen pro Tag getötet hast, hast du diesen Tag verschwendet.“
  • „Brecht mit Gewalt den Rassehochmut der germanischen Frauen. Nehmt sie als rechtmäßige Beute.“

Der englische Moskau-Korrespondent Alexander Werth bescheinigte solchen Ergüssen ein „geniales Talent, den Hass gegen die Deutschen zu schüren“.

Der russisch-jüdische Mordhetzer Ilja Ehrenburg

Überhaupt wurde die politische Ausrichtung der Roten Armee maßgeblich von den Politkommissaren (rund 250.000 Mann) geprägt, an deren Spitze seit 1937 Lev Mekhlis stand, der zuvor Mitglied der Jüdischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei war. Mekhlis führte zeitweise das persönlichen Büro Stalins und war auch Chefredakteur des kommunistischen Parteiblatts Prawda. Er wurde als Exzentriker und Mann von außergewöhnlicher Brutalität beschrieben. Da diese in auffälligem Kontrast zu seiner militärischen Kompetenz und der Bereitschaft stand, persönliche Verantwortung zu übernehmen, wurde er zwar 1942 von Stalin degradiert, allerdings nur um bereits 1946 wieder als Minister für Staatskontrolle eingesetzt zu werden, als seine „Qualitäten“ wieder gefragt waren.

Im Januar 1945 begann die Großoffensive der Sowjets auf Ostpreußen, die zu einer schrecklichen Tragödie für die dort lebenden Menschen führte.  Durch das Vordringen der Roten Armee Richtung Allenstein und Westpreußen wurde Ostpreußen bis Ende Januar 1945 vom Kerngebiet des Reiches abgetrennt. Die Bewohner Ostpreußens versuchten unter größten Strapazen, vor den Sowjets und ihren Gräueltaten in weiter westlich gelegene und von der Wehrmacht kontrollierte Gebiete zu fliehen. Viele begaben sich in Trecks auf das zugefrorene Frische Haff vor Königsberg und weiter westlich gelegenen Gebieten, um so auf die Frische Nehrung zu kommen – jene Landzunge, über die man nach Westpreußen und Danzig gelangen konnte. Die Flüchtlingstrecks wurden immer wieder von sowjetischen Tieffliegern angegriffen und zusammengeschossen. Auf dem Haff versank zudem mancher Karren mit Flüchtlingen im gebrochenen Eis. Das eiskalte Wasser führte fast unmittelbar zum Tod. Wo die Spitzen der Roten Armee die Flüchtlingstrecks einholen konnten, blieb den Fliehenden ein grauenvolles Schicksal kaum erspart. Sie wurden ausgeraubt, vergewaltigt, getötet oder nach dem Osten als Zwangsarbeiter verschleppt.

Flucht über das zugefrorene Haff unter sowjetischen Fliegerangriffen

Deutsche Rettungsaktion „Hannibal“

In dieser Zeit, genau am 21. Januar 1945, startete die Deutsche Kriegsmarine auf Geheiß von Großadmiral Dönitz eine gewaltige Evakuierungsoperation für zivile Flüchtlinge und verwundete Wehrmachtsoldaten unter dem Decknamen „Hannibal“. Mit fast 700 Passagier- und Transportschiffen sowie rund 400 Marineschiffen und Booten konnten etwa 1,5 Millionen zivile Flüchtlinge und einige hunderttausend verwundete Soldaten evakuiert werden. Zahlreiche Trecks versuchten daher in einen der Ostseehäfen zu gelangen, um mit den bereitgestellten Schiffen und im Schutz von Marineeinheiten weiter nach Westen zu fliehen. Dennoch kamen auch auf den Evakuierungsschiffen viele Ostpreußen ums Leben. Flüchtlings- und Lazarettschiffe wurden von den Sowjets gnadenlos angegriffen, wie es die Einpeitscher gefordert hatten. Großschiffe wie die Wilhelm Gustloff (30.01.1945), General von Steuben (10.02.1945) oder die Goya (16.04.1945) wurden mit jeweils mehreren tausend Flüchtlingen versenkt. Von den 2,4 Millionen Einwohnern Ostpreußens wurden kaum weniger als 300.000 auf grausame Weise getötet.

Einschiffung der Flüchtlinge in der ostpreußischen Stadt Pillau

Selbst vor Krankenhäusern, ironischerweise für Geisteskranke, machten die Sowjets nicht halt. Bekannt wurde das Massaker in der Heil- und Pflegeanstalt Kortau, in einem Vorort von Allenstein. Die Rotarmisten brachten Ende Januar alle Menschen um, die sich in dieser Einrichtung befanden. Dies waren neben Patienten auch Verwundete eines Kriegslazaretts, das medizinische Personal sowie Flüchtlinge, die hier Unterschlupf gefunden hatten. Die Menschen wurden überwiegend bei lebendigem Leib in Gebäuden verbrannt. Auf Flüchtende wurde geschossen, sogar Flammenwerfer wurden gegen die Zivilisten eingesetzt.  

Im April 1945 fiel schließlich die Hauptstadt Königsberg. Die Zivilbevölkerung wurde in Gewaltmärschen aus der Stadt getrieben, musste Verhöre, Misshandlungen und andere Verbrechen über sich ergehen lassen. Nachdem die Bewohner wieder in die Stadt durften, fanden sie eine total geplünderte Stadt vor, die weder über Strom noch eine Kanalisation verfügte. Brauchbare Gebäude waren von Russen vereinnahmt worden.

In dieser Situation ging es nun für die in Ostpreußen verbliebenen Kinder und Erwachsenen um die Frage, wie man überleben kann. Nach den unmittelbaren Verbrechen war der Hunger ein ständiger Begleiter. Essen gab es auf Brotkarten. Die konnte man bekommen, wenn man für die Besatzungsmacht arbeitete. Ab 14 Jahren galt für Deutsche eine Pflicht zur Zwangsarbeit, doch auch jüngere Kinder versuchten, durch Arbeit wenigstens etwas zu essen zu bekommen. Eine Garantie gab es jedoch nicht und mit fortschreitender Zeit wurde es unwahrscheinlich, in den Trümmern noch Konserven oder andere haltbare Lebensmittel zu finden. Allgemein wurden Kinder auf der Bezugskarte der Mutter eingetragen und erhielten darauf 200 Gramm Brot am Tag. Das sind bei Vollkornbrot weniger als 500 Kalorien.

Starb die Mutter oder wurden Kinder von der Mutter getrennt, mussten die Kinder versuchen, sich auf einen anderen Erwachsenen registrieren zu lassen. Tatsächlich konnte es den Kindern aus zahlreichen Gründen passieren, ihre Eltern zu verlieren: der Vater war an der Front, allgemeine Gewalt der Besatzer, Vergewaltigungen, Verschleppung, Trennung im allgegenwärtigen Chaos, Hunger und Seuchen. Ob ein Kind auf die Bezugskarte eines Erwachsenen registriert werden konnte, hing von der Besatzungsbehörde ab, die dabei willkürlich verfuhr. Kinder ohne erwachsene Bezugspersonen waren unter diesen Umständen dem Hungertod ausgeliefert. Das galt nebenbei auch für Kranke und Alte. Viele Kinder flohen daher vor dem Hunger ins Baltikum, überwiegend nach Litauen, das unmittelbar an Ostpreußen grenzt. Manchmal wurden Kinder auch von Erwachsenen nach Litauen gebracht oder Litauern als Arbeitskräfte angeboten, damit wenigstens die Kinder durchkommen. Es kam auch gelegentlich vor, dass alleinstehende litauische Frauen Kinder aufnahmen, um sie zum Betteln abzurichten.

1946 wurde die Region Königsberg und das Samland von nahezu allen Deutschen gesäubert, um dort Russen anzusiedeln, da das Gebiet in die UdSSR eingegliedert wurde und bekanntlich heute noch zum russischen Staat gehört. Spätestens jetzt gab es wenig Alternativen zur Flucht, was zu neuen Flüchtlingswellen führte. Dennoch wurden zwischen 1947 und 1949 etwa 3.300 Wolfskinder (neben Erwachsenen) aus Ostpreußen in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands verbracht und dort in eigenen Kinderheimen wie Pinnow, Kyritz oder Bernsdorf aufgezogen.

Flucht ins Baltikum

Der Weg für die Kinder ins Baltikum war ohne Schutz sehr gefährlich. Teils schlossen sie sich in Gruppen zusammen. Sie waren nicht nur der Willkür der Besatzungsmacht ausgesetzt, es herrschten auch je nach Jahreszeit vollkommen unwirtliche Witterungsverhältnisse. Und die flüchtenden Kinder waren regelmäßig sehr geschwächt, von Hunger und Krankheiten gezeichnet.

Ausgezehrte ostpreußische Kinder bei einer ärztlichen Untersuchung

Da die Sowjets alles was irgendwie brauchbar war aus den besetzten Gebieten raubten, herrschte ein reger Güterverkehr nach Osten. Die Kinder nutzten daher auch diese offenen Güterzüge und versuchten, in den Dörfern der Rajongemeinden entlang der Strecke Königsberg, Kybartai, Kaunas, Vilnius oder nördlich in den Rajongemeinden Jurbarkas, Tauragė, Klaipėda, Kretinga, Kelmė, Šiauliai und Biržai unterzukommen. Vielfach zogen Kinder gezwungenermaßen über weite Strecken von Dorf zu Dorf, weil eine Bleibe oft nicht von Dauer war. Wurden Kinder von Militärs auf den Zügen entdeckt, drohten ihnen Misshandlungen oder sie wurden von den Zügen geworfen. So starben zahlreiche Kinder entlang der Bahnlinien, besonders in der kalten Jahreszeit.

Leben als Wolfskind

Das Leben der Wolfskinder war von extremer Härte geprägt. Abgemagert, unzureichend bekleidet, verlaust und von Krankheiten befallen zogen sie über die Dörfer und versuchten auf den Höfen für Arbeit oder durch Betteln Nahrung und eine Schlafstelle zu bekommen. Niemand vermisste sie und so waren sie Opfer, für die sich keiner interessierte. Für die aufgehetzten Russen waren sie „Faschistenkinder“, in Litauen nannte man sie „vokietukai“ (kleine Deutsche). Viele waren Vollwaisen, und da sie auch von den Litauern oft nur als billige Arbeitskräfte missbraucht wurden, zum Weiterziehen gezwungen sobald die Arbeit beendet war, blieb den meisten jegliche Bildung verwehrt. Das Analphabetentum war weit verbreitet.

Regelmäßig durften die Kinder kein Deutsch sprechen, weil das zu gefährlich war. Die litauischen Gastfamilien bestanden darauf, dass die Kinder Litauisch lernten, um bei den Sowjets keinen Verdacht zu erregen. Allgemein fand schnell eine Anpassung an litauische Lebensverhältnisse statt. Waren die ostpreußischen Kinder überwiegend protestantisch, nahmen sie schnell die katholische Konfession an. Adoptionen oder Namensänderungen versuchten sie zwar gelegentlich zu vermeiden, um nochmal zurück zu ihren deutschen Verwandten zu kommen, aber die harten Verhältnisse setzten andere Prioritäten. Und so unterhielten sich die Kinder untereinander bald nur auf Litauisch, vergaßen über die Zeit die deutsche Sprache.

Hin und wieder wurden auch mal Geschwister von einer Familie aufgenommen. Aber auch hier war das Glück nicht immer von Dauer, und so wurden Geschwister zu anderen Verwandten der Gastfamilien geschickt oder mussten sich selbst eine neue Bleibe suchen.

Brüderpaar aus Ostpreußen auf der Flucht

Durch die 1948 von der Sowjetunion betriebene Kollektivierung Litauens verloren die Bauern ihre Höfe und konnten aufgenommene Kinder nicht mehr ernähren. Viele Kinder waren so noch nach Jahren ständig auf der Flucht, bis in andere baltische Staaten, Weißrussland oder die Ukraine. Seit der Eroberung und Besetzung der baltischen Staaten im Jahre 1944 durch die Rote Armee und bis in die 1950er-Jahre hinein, gab es im Baltikum eine starke Widerstandsbewegung. Man schätzt ihre Zahl allein in Litauen auf mehr als 50.000 Kämpfer, die aus den Wäldern operierten. Kontrollierten tagsüber die sowjetischen Besatzer das öffentliche Leben, gehörte die Nacht immer wieder den Freiheitskämpfern.

Ein damaliger Junge aus dem Widerstand in Estland, beim Gedenken der 20. Waffen-Grenadier-Division der SS (estnische Nr. 1) in den Blauen Bergen 2014
© Michael Stoller

Für die Wolfskinder ergab sich daraus weiterer Fluchtdruck. Die Sowjets durchkämmten systematisch die Dörfer, um nach „Faschisten“ zu suchen, wie die antibolschewistischen Freiheitskämpfer auch damals schon genannt wurden. Deutsche Kinder, so sie als diese erkannt wurden, waren für ortsansässige Balten ein Grund, sich verdächtig zu machen. Denn die Sowjets hatten Kollaborateure in den Dörfern, denen bekannt war, wer dort eventuell nicht hingehörte. So war das Leben vieler Wolfskinder von ständiger Existenzangst geprägt.

Schicksal und Erinnerung

Das Schicksal der Wolfskinder ist geprägt von Identitätskonflikten. Manche erhielten erst mit der Volljährigkeit erstmals einen Pass, oft hatten sie erfundene Vornamen und fremde Nachnamen und damit per se eine zweite, beispielsweise litauische Identität. Das alles machte es schwierig, überhaupt noch von Angehörigen oder Suchdiensten gefunden zu werden. Da sie ihre deutsche Identität lange verheimlichen mussten, oftmals als noch sehr junge Kinder, fehlte später die Kraft, wurde diese Zeit verdrängt und der Blick einfach nach vorn, auf das Überleben gerichtet. Reinhard Bundt, Jahrgang 1936, drückt diesen Zwiespalt rückblickend so aus: „Mein Herz ist deutsch, aber ich bin Litauer.“ Wenige hatten das Glück, in geborgene Verhältnisse zu kommen und als Erwachsene ohne Benachteiligung zu leben. Der Schmerz und das Trauma hat sie nie ganz verlassen, wie Gisela Unterspann berichtete, die mit 14 Jahren einem sowjetischen Todesmarsch entkommen konnte: „Das bleibt immer da, wie eine Narbe.“

Gestützt auf das 1997 in Litauen erlassene Gesetz über den Rechtsstatus von Besatzungsopfern der Jahre 1939-1990 konnten Wolfskinder mit litauischer Staatsbürgerschaft den Rechtsstatus als Besatzungsopfer erlangen und so eine kleine Rente bekommen (etwa 180 Litas / 50 € im Jahr 2002). Deutschland bot eine einmalige Entschädigung von 2.500 € an, aber nur für diejenigen, die Zwangsarbeit nachweisen konnten, was vielen nicht gelang.

In den letzten Jahren hat das Gedenken an die Wolfskinder zugenommen. Es gibt seit 1992 ein Wolfskinder-Denkmal in Mikieten (litauisch Mikytai) und verschiedene Dauerausstellungen. Seit 2024 wird in Litauen ein offizieller Gedenktag für die Wolfskinder begangen, nämlich am 14. September.

Das „Wolfskinder-Denkmal“ in Mikieten/Litauen
© Vilensija, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Erstveröffentlichung in N.S. Heute #48

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