Besprechungen #77: Pierre Drieu la Rochelle – Die Strohhunde

Eine außergewöhnliche Räuberpistole

Alles zerfiel und zeigte, indem es zerfiel, wie es gemacht worden war und welches Wunder eine Sache war, die gewesen ist. Er glaubte an die völlige Dekadenz des Landes und gleichzeitig daran, dass Dekadenz auch Wiedergeburt bedeutet. (S. 79)

Unlängst erschien im Jungeuropa-Verlag der – so die Bezeichnung des Verlags – „inoffizielle Nachfolgeroman“ von „Die Unzulänglichen“ des französischen Schriftstellers Pierre Drieu la Rochelle (1893-1945), mit dem Titel „Die Strohhunde“. Zum Epilog des erstgenannten Romans, der als eigenständiges Büchlein mit dem Namen „Der falsche Belgier“ erschien, findet sich eine Buchbesprechung in der N.S. Heute-Ausgabe #28. Die hochwertig gebundene Ausgabe der „Strohhunde“ beinhaltet auf insgesamt 312 Seiten neben dem Vorwort, dem Haupttext, einem Nachwort, Anmerkungen usw. auch ein Dramenfragment des Autors. Drieu la Rochelle schrieb jenen Roman 1943, veröffentlicht wurde dieser aufgrund der geschichtlichen Entwicklung in Frankreich jedoch erst 1964.

Nun zum Inhalt des Haupttextes: Der 50-jährige Hauptcharakter Constant Trubert, ein ehemaliger Seemann, Hafenarbeiter, Soldat und ausgebrochener Kriegsgefangener befindet sich im Sommer 1942 in Nordfrankreich. Dort trifft er auf die merkwürdigsten Charaktere, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Trubert hat den Auftrag, diese Leute zu beobachten und herauszufinden, welches Interesse sie an dem Landhaus seines Auftraggebers haben, das sich am Atlantikwall befindet. In mehreren Rückblenden erfährt der Leser im Laufe des Romans mehr über all diese Figuren, Truberts Auftraggeber sowie das Leben des Hauptcharakters.

Nach dem Krieg in Paris gelandet, gerät Trubert rein zufällig in einer Bar an seinen künftigen Arbeitgeber, den Schwarzmarkthändler Susini. Ohne Fragen zu stellen beginnt Trubert aus Geldmangel, für Susini zu arbeiten, und so landet er letztlich in oben genannter Situation um das Landhaus. Dabei stellt sich heraus, dass all die Charaktere, auf die er im Laufe der Handlung trifft, einem augenscheinlich vorgegaukelten Ideal nachjagen, sich dabei jedoch in den Dienst der unterschiedlichen Besatzer stellen. So startet ein Wetteifern gegen die Zeit und gegen die Mitspieler dieses Konstrukts, denn ein entdecktes Waffenlager zieht die Aufmerksamkeit aller auf sich. Wird es der französische Faschist in den Diensten der Deutschen, der Fabrikbesitzer in den Diensten der Engländer, die zwei Russen in ihrem Sinne oder gar der letzte junge Idealist und wahre Patriot Comrot an sich reißen können und so seine Ziele verfolgen können?

Eben jener Verrat unter dem Deckmantel des Patriotismus ist ein zentrales Motiv des Romans. Gleichwohl wird der Leser auf eine recht abenteuerliche Gedankenreise des Constant Trubert mitgenommen, die letztlich eine Auseinandersetzung mit und eine Übertragung der Figur des Judas auf sein eigenes Leben ist. Während die Charaktere nun versuchen, sich gegenseitig auszuspielen und das Vertrauen beziehungsweise Informationen der anderen zu erlangen, rückt die deutsche Wehrmacht immer weiter vor…

Anfangs ist es etwas undurchsichtig, all die Charaktere zu erfassen und sich die Schnipsel und Lebensfetzen dieser zu merken. Nach einigen Seiten stellt sich allerdings ein gewisser Lesefluss und Vertrautheit mit den Charakteren ein; nicht zuletzt durch Drieus ausgeprägten Sinn dafür, Beschreibungen messerscharf und kurz zu formulieren. Ebenso tauchen inmitten der ernsten Umgebung der Besatzung immer wieder humorvolle Dialoge oder Formulierungen auf. Die philosophischen Abschnitte des Buches sind nicht die einfachste Kost, bilden jedoch ein gutes Gleichgewicht zu der ansonsten recht schnellen und teilweise abrupt geschriebenen Handlung. Das Gefühl, eine Art Kriminalgeschichte oder Räuberpistole zu lesen, gepaart mit tiefgründiger Philosophie ist schon etwas Alleinstehendes. Es macht jedoch Spaß und bringt definitiv neue Einblicke in verschiedenste Bereiche – empfehlenswert in vollem Umfang!

Erstveröffentlichung in N.S. Heute #46

Schreibe einen Kommentar