Die Zeit als Kehrreim – Eine Kurzgeschichte zum 65. Geburtstag von Ian Stuart

Da stand ich, in dieser stickigen überfüllten Halle, umgeben von ohrenbetäubend lauten Maschinen, und verrichtete mein Handwerk. Ja, so war es jeden Tag: Man kam des Morgens früh an, begann zu arbeiten und ging gegen 17 Uhr heim. So auch an diesem Freitagnachmittag irgendwann Ende der 1980er-Jahre. Am Bahnhof, ein Dorf entfernt von unserer Großstadt, würden wir uns später treffen, so viel wusste ich. Das Wissen darum lag bereits eine Woche zurück. Mobiltelefone gab es nicht, aus heutiger Sicht war an so etwas nicht einmal zu denken.

So ging ich pünktlich heim und nahm direkt den elektrischen Haarscherer in die Hand. Denn Glatze und Stiefel gehörten dazu… ohne Wenn und Aber. In voller Montur traf sich unser Freundeskreis von Kameraden alsbald am Bahnhof. Bereits auf dem Weg zum Auto-Treffpunkt wurden die ersten Biere mit meinen beiden besten Kumpels Ralf und Matze getrunken. Kaum angekommen, teilten wir uns auch schon auf die Autos auf und fuhren zum Veranstaltungsort des Konzertes. Der Abend an sich war schön, obgleich er nur halb im Gedächtnis verhaftet bleiben sollte. Eigentlich war es zu der Zeit ein ganz normales Wochenende, wie wir sie auf Konzerten von Skrewdriver, oder welche Band auch immer spielte, verbrachten. Dort sahen wir bekannte Gesichter und lernten immer wieder neue Kameraden kennen.

Langsam und eher mäßig kam ich zu mir. Es musste wohl früher Morgen sein, so sagte es mir zumindest mein Gefühl. Mit der Zeit eignet man sich solche Fähigkeiten an, wenn man es denn als Fähigkeit wissen möchte. Im Lebenslauf, so viel wusste selbst ich, würde es sich in jenen Kontexten wahrlich nicht gut machen. Noch halb liegend, den Oberkörper leicht aufgerichtet, lag ich wie auf einer Ottomane ausgestreckt und versuchte krampfhaft, meine Umgebung zu analysieren. Obwohl, eigentlich begann ich zunächst damit, sie überhaupt einigermaßen durch meinen verschlafenen Blick hindurch wahrnehmen zu können.

Nachdem ich mir den Restschlaf mühsam aus den Augen gerieben hatte, erkannte ich mehrere Personen um mich verteilt – auf dem Boden liegend, mit Decken bis über die Köpfe zugedeckt. Es kam einem Tatort gleich. Bewegungen waren von keinem zu erkennen, und eine Luft musste in dem Raum herrschen, die jeglicher Beschreibung Hohn sprach. Zum Glück, auch das bringt die Suff-Erkenntnis mit sich, riecht man, wenn man selbst Teil des Raumes ist, in solchen Momenten rein gar nichts davon. Ich setzte mich hin, rieb mein Gesicht in meinen Händen und schüttelte den Kopf. Dumpf hörte ich plötzlich Musik… sie musste wohl die gesamte Nacht durchgelaufen sein, so dachte ich. European unity, the north teutonic dream. To scoop to save humanity… schallte es aus den Boxen.

Doch nicht bloß eine Stimme, schien es. Es kam mir vor, als würden zig Stimmen gleichzeitig singen. Verschiedene Oktaven rauschten durch meine Gehörgänge und strandeten in meinem Kopf. Das muss der Restalkohol sein. Unbeeindruckt davon schaute ich mich erneut um. Nun erkannte ich Ralf zu meiner linken, stumpf bäuchlings auf dem Teppich liegend und zugedeckt mit einer dünnen Schlafdecke. Matze hingegen lag etwas rechts diagonal von ihm, ohne jegliche Utensilien. Seine fötale Körperhaltung ließ unzweifelhaft darauf schließen, dass es ab und an nahe der Zimmertüre wohl doch einen kleinen Luftzug gab. „Tja“, dachte ich, „es sind halt immer die gleichen, die nichts mitnehmen“. Und ein ungeschriebenes Gesetz besagt nun mal, dass man da schläft, wo man umfällt. Hätte es einer von uns bemerkt, so hätten wir ihn natürlich zugedeckt. Aber unser aller Zustand hatte uns diese Heldentat des Nachts nicht vollbringen lassen. Die Musik dröhnte immer noch, als würden ganze Chöre die Lieder im Kanon singen. Ich stand auf und ging Richtung Flur, um ins Bad zu kommen. So stieg ich über Matze hinweg und merkte bereits die Zugluft, noch ehe ich vollständig in besagtem Flur verschwunden war.

Gefühlte Stunden später, als wir uns dann alle aufgerafft und fertiggemacht hatten, saßen wir schließlich und endlich im Auto und befanden uns auf dem ersehnten Heimweg. Die Boxen im Auto vibrierten so heftig, dass die Spiegel wackelten. Die Brille von Ralf hüpfte lustig im Rückspiegel hin und her. Für einen kurzen Augenblick war ich darauf bedacht nachzusehen, ob es wirklich die Brille war, die so hüpfte, oder ob es nur der Spiegel selbst war. Und was dröhnte wie selbstverständlich aus den Boxen? Richtig, Skrewdriver! Hatten wir jene Band nicht schon genug gehört an diesem Wochenende?! Stand up beside us and we’ll have our day. Stand up against us get out of our way… Die Stimmung war gut, angesichts dessen, dass wir uns vor einigen Stunden noch so miserabel gefühlt hatten.

 „Ja man, gemeinsam gegen die Ausländer! Schon wieder welche von denen bei uns in der Firma“, sagte Matze aus einem Gespräch heraus, dem ich nicht zugehört hatte. „Ist das nicht etwas zu plump?“, schob Ralf direkt als Einwand ein. In diese aus heiterem Himmel entfachte Diskussion mischte ich mich erstmal nicht ein. Klar, wir dachten zwar alle so, aber dieses Gespräch, so schien es mir, hätte angesichts der Umstände nicht fruchtbar ausgetragen werden können. Außerdem waren da ja auch noch die zahlreichen Gesangsstimmen präsent. Alle sangen sie im Chor, der oder die eine hoch oder tief. Nun schallte es aus den Autoboxen: We fight for freedom, we fight to win. The colour of our uniform, is the colour of our skin. We’ve got the power, we’ve got the pride. When we get the unity, it’s alright!

Du kannst doch nicht noch derart betrunken sein, dachte ich, während die übrigen bereits das nächste Bier öffneten. Ich sollte es ihnen gleichtun, schaden soll’s wohl nicht, ist ja schließlich Wochenende, und den Samstag sollten wir auch noch rumbekommen. In Gedanken versunken zog ich mich mit meinem Bier und schweifenden Blicken aus dem winzig kleinen Fahrzeugfenster zurück, sofern man es überhaupt noch Fenster nennen konnte. Die vielen Gesänge verblassten zum Glück allmählich mit den Kilometern, die wir zurücklegten. Die Zeit vergeht erstaunlich schnell, wenn man in Gedanken versunken über alles Mögliche nachdenkt. Wie spät es wohl sein mochte? Die Fahrzeuguhr würde es mir sicherlich anzeigen können. Sie zeigte 9:05 Uhr an. „Jau, mit Sicherheit”, sagte ich zu mir, „naja, immerhin noch bevor die Nacht hereinbricht.”

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„Hey, was sagst Du denn nun dazu?”, wurde ich unsanft angestupst. „Wozu, das mit den Ausländern?”, fragte ich zurück. „Ach lass ihn, er ist besoffen”, drang es schroff von gegenüber, offenbar mich meinend. Als ich meine Augen vollständig öffnete, erkannte ich Ralf rechts neben mir auf einem Sofa sitzend und Matze auf einem Stuhl gegenüber. Beide sahen alt aus, als lägen Schatten auf ihnen, die sich über Jahre auf ihren Gesichtern abgezeichnet und ihre ganz eigenen Abdrücke hinterlassen hatten. Mein Blick fiel hinter Matze auf den dort an der Wand hängenden Kalender. Er zeigte den 11. August 2022 an.

Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: „Ist es nicht genau das, was uns der gute alte Ian hinterlassen hat?”, sagte ich vor mich hin und doch gleichzeitig in die Runde fragend. „Na dann antworte doch endlich darauf und quatsch nicht erst so‘n Blödsinn mit Ausländern, Du Hampel”, raunte mich Ralf mit einem Schulterschubser an. „Ist es nicht gerade das, was Ian Stuarts größtes Vermächtnis ist, dass er Kameraden auf der gesamten Welt durch seine Musik eint und für die richtige Sache streiten lässt? Und all diejenigen, die vor uns gingen, singen ebenso seine Lieder mit uns. Keiner ist vergessen“, sagte ich nachdenklich vor mich hin.

Die Zeit vergeht, Erinnerungen sind aber unzweifelhaft auch immer mit musikalischen Einflüssen verbunden. Es gibt gewisse Lieder, die uns unser ganzes Leben lang begleiten werden, einen jeden von uns. Ob wir nun in Erinnerungen schwelgen, von vergangener Zeit träumen oder heute die Evergreens unserer musikalischen Helden in die tagesaktuellen Kontexte überführen, all das ist letztlich egal. Denn die Musik und die damit verbundenen Emotionen vereinen Gleichgesinnte und bieten die Möglichkeit, so auch über politische Inhalte zu sprechen.

An diesem Abend jedenfalls lachten wir über meinen kleinen, im alkoholisierten Halbschlaf unternommenen gedanklichen Ausflug zurück in unsere Jugendtage. Gleichzeitig war dies der Anstoß für die anderen beiden, ihre eigenen Jugendgeschichten zu erzählen. So feierten wir bei guter Laune, netten Anekdoten und dem ein oder anderen Kaltgetränkt Ian Stuarts 65. Geburtstag. Erinnerungen, Emotionen und all die Gemeinsamkeiten, die Musik transportieren und sie gleichzeitig so authentisch wirken lassen kann, zeigen einmal mehr, dass Musik, wenn sie richtig verpackt wird, zeitlos, mobilisierend und letztlich unsterblich ist. Also dann: „Auf unseren Ian in Walhalla, lasst uns das Glas erheben!”

Erstveröffentlichung in N.S. Heute #30

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