Besprechungen #15: Thomas Wagner – Der Dichter und der Neonazi

Das Buch hat nur 172 Seiten, aber dafür ist der Titel umso länger. Er lautet: „DER DICHTER und DER NEONAZI – ERICH FRIED und MICHAEL KÜHNEN“, und dann gibt es auch noch einen – allerdings nicht ganz so langen – Untertitel: „Eine deutsche Freundschaft.“

Zur Veröffentlichung haben Autor Thomas Wagner und der Klett-Cotta-Verlag sich ein Datum ausgesucht, das nicht lang nach dem 30. Todestag von Erich Fried und noch weniger lang vor dem 30. Todestag von Michael Kühnen lag.

Erich Fried: 1921 in Wien geborener Jude (oder jüdischer Österreicher, wie man politisch korrekter auch sagen kann), Linker, Dichter. Fried selbst hätte wohl eher die umgekehrte Reihenfolge der Auflistung der Eigenschaften bevorzugt: Dichter, Linker, Jude.

Michael Kühnen: 34 Jahre später in der damaligen Ortschaft Beuel (bei Bonn) geboren, bis zu seinem Tod der bekannteste und einflussreichste Neonazi der Republik.

Freundschaft zwischen zwei Menschen mit einer dermaßen unterschiedlichen Biographie und unterschiedlichen Ansichten? Unvorstellbar? Unmöglich?

Autor Thomas Wagner geht der Frage akribisch nach.

Am Anfang stand ein Medienskandal. Am 21. Januar 1983 sollte in Bremen die Talkshow „III nach 9“ stattfinden. Eingeladen waren neben anderen Fried und Kühnen; letzterer gerade wenige Wochen vorher nach mehr als vierjähriger Gesinnungshaft wegen NS-Propaganda aus dem Gefängnis entlassen.. Einen Tag vor der Ausstrahlung entschied der Rundfunkrat, Kühnen wieder auszuladen; man wollte ihm „kein Podium bieten“. Und damit war das ursprünglich vorgesehene Thema „Gefahr des neu aufflammenden Rechtsextremismus“ gekippt, das neue Thema war das Für und Wider der Ausladung. Frieds Haltung dazu: „Ob man den einladen soll oder nicht, darüber kann man streiten. Wenn man ihn eingeladen hat, ihn auszuladen, ist ganz bestimmt falsch und kleinkariert.“

Michael Kühnen sah die Sendung in seinem damaligen hessischen Quartier, griff zum Telefon und rief im Sender an. Er schaffte es, mit Fried verbunden zu werden, der in der Kantine mit Gästen, Moderatoren und der Redaktion von „III nach 9“ gesellig zusammensaß. Kühnens früherer Gefolgsmann Thomas Brehl erinnerte sich, dass die beiden so ungleichen Männer offenbar sofort einen persönlichen Draht zueinander gefunden hätten.

Es entspann sich eine Korrespondenz, die in den folgenden fünf Jahren bis zu Frieds Tod 16 oder 17 Briefe umfasste. Einmal gab es auch eine persönliche Begegnung: Als Michael Kühnen nach einem guten halben Jahr Exil 1984 aus dem klassischen Asylland Frankreich ausgewiesen und in Deutschland inhaftiert wurde, wo er die nächsten dreieinhalb Jahre in Gefangenschaft verbrachte. In dieser Zeit besuchte Erich Fried ihn im Gefängnis. Bei einer späteren Gelegenheit, als Kühnen wegen öffentlicher Äußerungen einen neuerlichen politischen Prozess hatte, bot Erich Fried sich sogar als „Leumundszeugen“ für ihn an. Das Gericht lehnte das Angebot allerdings ab.

Wie aber konnte es zu einer solchen Verbindung kommen?

Erich Frieds Vater starb in Haft, nachdem ein Gestapo-Mann ihn zusammengeschlagen hatte. Seine von ihm sehr geliebte Großmutter kam im Konzentrationslager um. Er selbst ist als 17-Jähriger nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich nach London geflohen. Er hatte jeden nur denkbaren Grund, auf den historischen Nationalsozialismus Hass zu empfinden.

Michael Kühnen andererseits war Antisemit. Er war nicht unbedingt so rassebezogen wie die SS oder Julius Streicher, er war eher ein Anhänger der sogenannten „SA-Linie“, aber auch für ihn war „der Jude“ ein wenig „der Weltfeind“. Und selbst da, wo er in „der Judenfrage“ vielleicht eine liberalere Haltung vertrat, war unter seiner Anhängerschaft strikteste Judenfeindlichkeit ein starkes Dogma.

Möglich war eine konstruktive Diskussion, die bis hin zu persönlicher Freundschaft und menschlicher Anteilnahme geführt hat, wohl nur, weil beide Männer einander als subjektiv ehrlich erkannten.

Soweit man in einer solchen Verbindung eine Art von Verdienst, von menschlicher Größe, sehen will, gebührt das Lob in allererster Linie Erich Fried. Trotz persönlichen Schicksals und der Notwendigkeit der Flucht ins Ausland und trotz schwerwiegender familiärer Verluste mochte er nicht an das absolut Böse glauben; er wollte – in der Hinsicht weit eher christlich als jüdisch geprägt! – selbst im Bösen noch die Potenz des Guten sehen. Kühnen seinerseits war trotz seiner Weltanschauung durch humanistische Bildung geprägt: Er konnte die Verallgemeinerung zurücknehmen.

Für Michael Kühnen war ein – zumindest einzelner – „guter Jude“ vorstellbar; für Erich Fried war nicht jeder historische Nationalsozialist ein Massenmörder und nicht jeder Neonazi ein potenzieller neuer Massenmörder.

Hätte es solche Begegnungen – und die menschliche „Chemie“ zwischen den Prota- oder Antagonisten – in den 20-er und frühen 30-er Jahren häufiger gegeben, wer weiß, wie dann die Geschichte verlaufen wäre.

Eine Anmerkung des Rezensenten:

Ich habe lange überlegt, ob ich diese Rezension schreiben soll. Grund dafür ist der Umstand, dass Autor Wagner auch acht Seiten über mich schreibt; aufgrund einer Begegnung, die wir 2018 in Parchim hatten. Man setzt sich leicht dem Verdacht aus, selbstbezogen zu sein. Profilsüchtig. Namentlich dann, wenn man im Abspann als erster dankend für die eigene Auskunftsbereitschaft erwähnt wird. Auch wenn sie in dem Fall weit weniger mich selbst betroffen hat als eher meinen verstorbenen Kameraden.

Auf der anderen Seite aber: Ein Buch wie dieses bedarf der Besprechung. Weit über alle politischen Grenzen hinaus ist es menschlich bedeutsam. Der vor zweieinhalbtausend Jahren gestorbene chinesische General Sunzi schrieb ein zeitlos aktuelles Buch: „Sunzi über die Kriegskunst“. Er lehrte: „Kenne deinen Feind und dich – keine Gefahr in tausend Schlachten!“ – Kennst und verstehst du deinen Feind aber, dann drängt sich die Frage auf, ob er noch dein Feind ist. Oder ob er dir nicht so nahe ist, dass er eher dein Bruder als dein Feind sein könnte.“

Fried und Kühnen hatten beide ihre Dogmen. Aber beide waren davon nicht so abhängig, sie nicht zu hinterfragen; sie waren beide bereit, aus sich selbst und ihrem politischen Umfeld herauszutreten und zu erkennen: Wenn nichts sonst, so sind wir Menschen, und das sollte uns verbinden und nicht trennen.

Erstveröffentlichung in N.S. Heute #25

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