Zum 1. Todestag von Siegfried Borchardt – Nachruf auf eine Legende

Siggi-Borchardt-Gedenkmarsch am 9. Oktober 2021 in Dortmund

Am 3. Oktober 2021 hat sich das Lebenswerk eines Mannes vollendet, dessen 67 Jahre währendes Leben so einzigartig und turbulent war, dass er schon zu Lebzeiten als Legende, als Ikone und Kultfigur betrachtet wurde. Doch Siegfried Borchardt war niemals nur derjenige, der als politischer Aktivist und Fußball-Hooligan in der Öffentlichkeit stand, denn genauso hatte er auch ein sehr bewegendes und ereignisreiches Privatleben. Am 3. Oktober 2021 haben zwei Kinder ihren Vater verloren, Angehörige nahmen Abschied von ihrem Bruder, Schwager und Onkel, unzählige Menschen verabschiedeten sich von ihrem Freund, Kameraden, Kumpel und politischen Kampfgefährten – und am 3. Oktober 2021 starb auch das Herz der nationalen Bewegung in Dortmund.

Kinder- und Jugendzeit im Münsterland

Siegfried Roland Borchardt wuchs als Zweitältester von fünf Brüdern in einem kleinen Dorf im Münsterland auf. Der Vater war Bahnbeamter und SPD-Mitglied, die Mutter Hausfrau. Die Schulzeit im streng katholischen Münsterland der 50er- und 60er-Jahre war für Siggi mehr Pflicht als Vergnügen, den monotonen Lehrplan lockerte er nach eigenen Angaben lieber mit einigen Streichen auf. Die einzigen Fächer, für die er sich begeistern konnte, waren Erdkunde und Geschichte. Sofern es seine freie Zeit zuließ, die durch das Hüten der kleinen Geschwister sehr begrenzt war, verbrachte er die Tage gerne draußen. Kurz nach der Einschulung wurde er Mitglied bei den Pfadfindern: Geländespiele, Zeltlager, Selbstverteidigung, Abenteuer, das war ganz nach seinem Geschmack. Falls er mal wieder Hausarrest hatte, was nicht selten vorkam, las er Bücher von Karl May oder verschlang Bildbände über fremde Länder und Kontinente – die Grundlage für seine spätere Lust am Reisen.

Als Siggi in die Pubertät kam, nahm das Dorfleben für ihn so richtig Fahrt auf: Dorffeste, Geburtstage, Schützenfeste, Hochzeiten, Osterfeuer, Maibaum aufstellen und so weiter – auf seinem Dorf war immer was los, weil immer alle Nachbarn gemeinsam feierten. Nach dem Schulabschluss wollte er eigentlich etwas Handwerkliches lernen, doch seiner Mutter zuliebe bewarb er sich bei einer großen Textilfabrik als Industriekaufmann. In dieser Zeit unternahm Siggi zusammen mit einem Jugendfreund seine erste selbständige Auslandsreise, per Anhalter nach England. In London erlebte er unbewusst die Geburt einer neuen Jugendbewegung mit und konnte damals noch nicht ahnen, dass diese Jugendlichen, die sich „Skinheads“ nannten, in seinem Leben noch eine größere Rolle spielen sollten.

Seinen Grundwehrdienst absolvierte er als Panzerfahrer beim 2. Flugabwehrbataillon 6 in Lütjenburg bei Plön in Schleswig-Holstein. Doch die einzige „Karriere“, die er nach eigenen Angaben bei der Bundeswehr machte, war seine Disziplinarstrafenkarriere. Durch die Bundeswehr hatte er immerhin einen Pkw-Führerschein erhalten, was er nach dem Wehrdienst nicht nur dazu nutzte, mehrere Autos zu Schrott zu fahren, sondern auch, um sich mit einer eigenen Werbekolonne selbständig zu machen.

Wie seine Leidenschaft für den Fußball geweckt wurde

Siggi verdiente damals für sein junges Alter nicht nur relativ viel Geld, er hatte zu dieser Zeit auch seine erste richtige Freundin: sie war 18 Jahre älter als er und hatte bereits drei Kinder. Beinahe wäre Siggi also in ein „normales“ Leben hineingeschlittert, wenn nicht ein junger, fußballbegeisterter Mann aus Essen in sein Leben hineingeplatzt wäre: Dieter alias „Chaoten-Vossi“ arbeitete in Siggis Werbekolonne und hatte seinen Spitznamen nicht zu Unrecht. Durch Vossi besuchte Siggi, der sich damals kaum für Fußball interessierte, sein erstes Spiel bei Rot-Weiß Essen. Das Spiel an sich interessierte ihn zwar immer noch recht wenig, aber die Atmosphäre, die Kameradschaft, das Trinkgelage, die Kämpfe mit den Gegnern in der „dritten Halbzeit“, die Erlebnisfahrten zu den Auswärtsspielen, das alles faszinierte ihn. Über die Essener Fanszene lernte er jede Menge neue Leute kennen, die später den Fanclub „Crazy Boys“ gründen sollten.

Vossi war es schließlich auch, der dafür sorgte, dass Siggi Mitte der 70er-Jahre seinen späteren Freund und Kameraden Jochen kennenlernte. Die beiden waren nicht nur persönlich, sondern auch politisch auf einer Wellenlänge. Sie bewunderten die Wehrsportgruppe Hoffmann und feierten die Aktionen der Kühnen-Truppe. Noch Jahrzehnte später amüsierten sich die beiden manchmal darüber, dass sie genau so geworden sind, wie die Leute, die sie damals bewundert haben: von den jungen Leuten respektiert und geliebt, von den Alten gehasst und beneidet.

Ende des Jahres 1977 kam es zu einer folgenschweren Begegnung in der Hagener Bahnhofstraße: Siggi, Jochen und zwei weitere Kameraden gerieten mit einer Ausländerbande in Streit und mussten einige Ohrfeigen verteilen. Als ein paar Wochen später die Vorladungen von der Polizei in den Briefkasten flatterten, staunten Siggi und Jochen nicht schlecht, dass ihnen nicht nur „schwere Körperverletzung“, sondern auch Raub vorgeworfen wurde. Die beiden kamen zu dem Ergebnis, dass es Zeit für einen „Klimawechsel“ sei und beschlossen, der Bundesrepublik für einige Zeit den Rücken zu kehren.

Südamerika: Auf Flucht, ohne gesucht zu werden

Das Zielland für das vorübergehende Exil war schnell gefunden, schließlich stand 1978 die Fußball-Weltmeisterschaft in Argentinien an. Die beiden flogen über London nach Buenos Aires, wo sie am Flughafen von etlichen Rundfunk- und Fernsehteams in Empfang genommen wurden, die über die Anreise der deutschen Fans berichteten. Gerade erst aus Deutschland geflüchtet, gaben sie also bereits Interviews für den deutschen Rundfunk. In Córdoba, dem Austragungsort eines Deutschlandspiels, lernte Siggi eine ortsansässige Kioskbesitzerin kennen und lieben. Ana Maria war halb Deutsch-Schweizerin, halb Spanierin, in Argentinien geboren und sprach kein Wort Deutsch. Die Wege von Siggi und Jochen trennten sich zunächst, denn Siggi blieb in Córdoba, wo er im Kiosk seiner Freundin arbeitete und innerhalb von drei Monaten die spanische Sprache erlernte.

Die Zeit in Córdoba war für Siggi sehr angenehm. Seine Freizeit verbrachte er häufig beim Asado, dem argentinischen Grillen, und bei den Besuchen in den Bars bekam er ein ganz anderes Verhältnis zu Waffen, da zur damaligen Zeit in Argentinien so ziemlich jeder erwachsene Mann eine Schusswaffe bei sich trug. Doch nach 14 Monaten in Córdoba meinte das Schicksal wohl, dass sein Leben trotz allem noch zu langweilig sei: Nach einem Streit um die Kosten für eine Autoreparatur, bei dem Ana Maria dem Werkstattbesitzer ein Messer in die Seite gedrückt hatte, wurde es Zeit für die „zweite Flucht“, diesmal aus Argentinien heraus. In einer Nacht- und Nebelaktion flohen die beiden über den Rio Paraná nach Uruguay. Dies war für Siggi und Ana Maria der Startschuss für eine 600 Tage andauernde Reise quer durch Süd- und Mittelamerika. Als Rucksacktouristen legten sie 32.000 Kilometer über Land zurück, zumeist fuhren sie per Anhalter, teilweise auch per Zug, Bus oder für ein paar Pesos auf der Ladefläche eines Lkw. Sie übernachteten währenddessen im Zelt, in billigen Hotels oder bei Leuten, die sie während ihrer Reise kennengelernt hatten.

Überraschung beim Feuerholz sammeln, Ohio 1980

Allein die Anekdoten aus Siggis Zeit im Exil sind so zahlreich, dass sie ein ganzes Buch füllen könnten. In Brasilien wohnten sie im Strandhaus eines pensionierten Geschichtsprofessors in São Paulo, in Paraguay bei einem einheimischen Rechtsanwalt. In Bolivien halfen sie einem Major der Armee, zwei VW Käfer nach Cochabamba zu schmuggeln und in Peru wanderten sie auf dem Inkapfad zum Machu Picchu. In Ecuador zechte Siggi mit den Fischern am Strand von Esmeraldas und wurde von Plünderern in den Oberschenkel geschossen, dann ging es über knapp ein weiteres Dutzend Länder schließlich in die USA, wo die beiden unter anderem San Diego, Los Angeles und San Francisco besuchten.

Unterdessen hatte Siggi durch Jochen erfahren, dass es wegen ihres eigentlichen Fluchtgrundes keine Anklage mehr geben würde. Durch einen Brand im Hagener Justizzentrum waren die Gerichtsakten vernichtet worden, sodass es gegen Siggi auch keinen Haftbefehl mehr gab. Tatsächlich war er also auf der Flucht, ohne gesucht zu werden. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin wollte er nun nach Deutschland reisen, und damit Ana Maria keine Probleme bei der Einreise bekäme, heirateten die beiden noch schnell in Nevada. Anschließend ging es über New York und Amsterdam zurück nach Deutschland, womit Siggis „kleiner“ Ausflug beendet war. Die Leidenschaft für das Reisen sollte ihn sein ganzes Leben lang nicht mehr loslassen, bis er sich schließlich im September 2019 zusammen mit seinem WG-Partner Mario das große Ziel erfüllen konnte, mit einer Reise nach Island sein 100. Land der Erde zu besuchen.

Die Borussenfront und die „Geburt“ von „SS-Siggi“

Frisch in Deutschland angekommen, nahm Siggi seine Arbeit im Außendienst wieder auf und bezog eine Wohnung im Hagener Rotlichtviertel. Ana Maria wurde in Deutschland allerdings nicht glücklich, sodass sich die beiden bereits Anfang 1982 wieder trennten. Weitere Heiratsversuche sollte Siggi dann nicht mehr unternehmen.

Am Karfreitag, den 9. April 1982, wurde die „Borussenfront“ gegründet. Die Gründung dieser schlagkräftigen Hooligan-Truppe verfolgte hauptsächlich den Zweck, den Erzrivalen S04 endlich mal wieder Paroli bieten zu können. Da einige Gründungsmitglieder Heavy Metal-Fans waren, übernahmen sie für das Fanclub-Shirt die typischen Schriftzeichen und die Symbolfigur „Eddie“ der Band „Iron Maiden“; die Doppel-Sigrune übernahmen sie von der Gruppe „Kiss“. Siggi war kein Gründungsmitglied der Borussenfront, wie es später in den Medien vielfach behauptet wurde. Er trat dem Fanclub einige Wochen nach dessen Gründung bei, da es sich um erlebnisorientierte Fußballfans und zuverlässige Kampfgefährten handelte, die keiner Auseinandersetzung aus dem Weg gingen. Im bundesweiten „Kampf um die dritte Halbzeit“ hatte die Borussenfront eine regelrechte „Blitzkarriere“ hingelegt. Der Dortmunder Borsigplatz entwickelte sich zum „Gewalterlebnispark“ für Fußballfans der Abteilung „Reisen und Abenteuer“. Nicht nur Kameraden aus Dortmund, sondern auch durchreisende, befreundete Hooligans aus der ganzen Republik gaben sich am Borsigplatz die Ehre.

Ein Jahr nach der Gründung der Borussenfront schrieb ein „Enthüllungsjournalist“ einen neunseitigen Artikel für die Zeitschrift „Stern“. In diesem Artikel wurde Siggi erstmals als „SS-Siggi“ bezeichnet, obwohl ihn bis dato niemand so genannt hatte – der Name war also eine reine Erfindung dieses Reporters. Siggi hat selbst rückblickend dazu gesagt, dass dieser Name, ob er ihm nun gefiel oder nicht, sein weiteres Leben beträchtlich beeinflusst hat –  und das nicht unbedingt negativ.

Auch privat gab es für ihn wieder einige Veränderungen: Während der Fußball-WM 1982 in Spanien lernte er die junge Spanierin Pili kennen, die er schließlich für einige Monate mit zu sich nach Dortmund nahm. Als sie im Frühjahr 1983 zurück nach Spanien fuhr, ahnten die beiden noch nichts von Pilis Schwangerschaft. 26 Jahre später sollte sich seine Tochter auf die Suche nach ihrem Vater machen und ihn schließlich auch finden. So entwickelte sich ein spätes Vater-Tochter-Verhältnis mit regelmäßigem Kontakt und gegenseitigen Besuchen sowohl in Spanien als auch in Deutschland.

Erste politische Tätigkeiten, erste Haft und FAP-Zeit

Von Anfang an gingen bei Siggi Fußball und Politik Hand in Hand. Bereits Anfang der 80er-Jahre hatte die Borussenfront sporadischen Kontakt zu Mitgliedern der NPD, an deren regelmäßigen Kameradschaftstreffen in der damaligen Landesparteizentrale in Wattenscheid auch einige Borussenfrontler teilnahmen. Durch die Kontakte, die Siggi bei den Kameradschaftsabenden der NPD geknüpft hatte, lernte er auch Kameraden der „Aktionsfront Nationaler Sozialisten / Nationale Aktivisten“ (ANS/NA) kennen. Bei der ANS/NA gefiel es ihm auf Anhieb, da die Kameraden dort von einem ganz anderen, radikaleren Schlag waren. Die Zeit bei der ANS/NA währte für Siggi allerdings nicht lange, da die Organisation bereits im Dezember 1983 aufgelöst wurde.

Für Siggis politischen Aktivismus hatte das Verbot der ANS/NA allerdings praktisch keine Auswirkungen, denn nun trat ein Mechanismus ein, der sich in den nächsten Jahrzehnten noch zigfach wiederholen sollte: Wird die eine Organisation verboten, steht die nächste schon bereit. Im Februar 1984 wurde in NRW ein Landesverband der „Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei“ (FAP) gegründet, wo Siggi auch Michael Kühnen persönlich kennenlernte. Viele Kameraden der Borussenfront und andere Nationalisten aus der Region traten in die FAP ein, Siggi wurde Dortmunder Kreisvorsitzender und schon ein paar Wochen später bezogen sie ihr Parteibüro in der Schlosserstraße, direkt am Borsigplatz. Für eine Flugblattaktion mit dem Tenor „Keine Ausländerghettos im Dortmunder Norden!“ wurden sie damals übrigens von den Passanten ausgelacht – und heute sieht man, wie es gekommen ist…

Auf einer Geburtstagsfeier am 20. April 1984 bei Curt & Ursel Müller in Mainz. 3.v.l. im weißen Hemd Helmut Burkhardt, Siggi ganz r. mit Barett (Quelle: Archiv Helmut Burkhardt)

Der politische Aktivismus, die Fahrten „in Sachen Fußball“ und die Kneipenauseinandersetzungen am Borsigplatz zogen unvermeidlich auch das ein oder andere Strafverfahren nach sich. Im Nachhinein konnte sich Siggi im Detail gar nicht mehr daran erinnern, wann er wie lange und für was im Knast gesessen hat, doch wie er sagte, verliert man bei über 130 Ermittlungsverfahren, 40 Verurteilungen und 90 Freisprüchen beziehungsweise Verfahrenseinstellungen leicht mal den Überblick. Die erste Haftzeit von zweieinhalb Jahren trat er im Frühjahr 1985 an, insgesamt dürfte er im Laufe seines Lebens acht bis neun Jahre im Gefängnis verbracht haben. Seine Haftzeiten nutzte er dazu, viel zu lesen und sich weiterzubilden. Das Einzige, was ihn am Knast störte, war eigentlich die Tatsache, dass er hinterher alles immer wieder neu aufbauen musste, was während seiner Haft an politischen Strukturen in Dortmund kaputtgegangen war.

Während seiner ersten Haftzeit nahm Siggi Briefkontakt zu Friedhelm Busse auf, der für die nächsten 20 Jahre einer seiner engsten Freunde und Kameraden sein würde. Nach einigen internen Machtkämpfen in Folge der Spaltung der Bewegung übernahmen Busse, Siggi und weitere Aktivisten der „Anti-Kühnen-Fraktion“ die FAP. Friedhelm wurde Bundesvorsitzender, Siggi stellvertretender Vorsitzender und Landesvorsitzender in NRW. Am 20. April 1989 gelang ihnen mit der Zulassung zur Europawahl als erste nationale und sozialistische Partei seit 1945 die Teilnahme an einer bundesweiten Wahl. Für Siggi blieb Friedhelm Busse auch nach dem FAP-Verbot im Jahr 1995 weiterhin der „Chef“, Friedhelm war sein Vorbild und sein väterlicher Freund. – Noch viele Jahre nach Friedhelms Tod hörte Siggi manchmal frühmorgens, wenn er ein wenig lustlos aufwachte, im Geiste Friedhelms Stimme: „Siggi, aufstehen, Revolution machen!“

Siggi (l.) mit Friedhelm Busse und jungen Kameraden Ende 80er-Jahre in München (Quelle: Archiv Siggi Borchardt)

Kameradschaft Dortmund und Nationaler Widerstand Dortmund

Nach dem Verbot der FAP und weiterer nationalistischer Parteien Mitte der 90er-Jahre wurde das Konzept der „Freien Kameradschaften“ beziehungsweise „Freien Nationalisten“ ausgearbeitet, das nicht mehr auf eine überregionale, einheitliche Organisation setzte, sondern stattdessen auf dezentrale Strukturen und lokale Zusammenschlüsse. Die Kameradschaft Dortmund war eine der ersten Organisationen, die das Konzept der Freien Nationalisten übernahm und in die Praxis umsetzte. Siggi wurde natürlich Kameradschaftsführer und verschaffte sich mit seinen Dortmundern schnell den Ruf, eine der größten und aktivsten Kameradschaften in ganz Deutschland zu sein, die sich keine Gelegenheit einer Demonstration entgehen ließ. Zu den Höhepunkten dieser Zeit gehörten die großen Protestdemonstrationen gegen die Anti-Wehrmachtsausstellung und die von Christian Worch angemeldete Demonstrationsserie in der Antifa-Hochburg Leipzig.

Siggi wäre natürlich nicht Siggi, wenn er nicht auch selbst hin und wieder einen Polizeieinsatz verursacht hätte, beispielsweise bei der legendären Feier zu seinem 47. Geburtstag im Dortmunder Norden. Die Partygäste, die sich standhaft gegen eine Auflösungsverfügung der Polizei wehrten, konnten erst dann zur Aufgabe bewegt werden, als die Feuerwehr mit einem Stahlrohr Wasser in den Partykeller leitete und den Gästen das Wasser im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Halse stand.

Als nach der Jahrtausendwende die Phase der „Autonomen Nationalisten“ begann, die für eine gewisse Polarisierung innerhalb der Bewegung sorgten, wurde Siggi zu einem der einflussreichsten Fürsprecher dieses neuen Phänomens. In Dortmund band er die „jungen Wilden“ in die bestehenden Kameradschaftsstrukturen ein, was einen deutschlandweiten Vorbildcharakter hatte und neuen Schwung in die Bewegung brachte. Die Kameradschaft Dortmund, die nun zumeist unter der Bezeichnung „Nationaler Widerstand Dortmund“ (NWDO) auftrat, mietete ein nationales Zentrum an der Rheinischen Straße 135 und veranstaltete jedes Jahr eine Großdemonstration zum „nationalen Antikriegstag“ mit bis zu 1.300 Teilnehmern. Zu dieser Zeit begann Siggi allmählich, sich aus der Führung der Dortmunder Kameradschaft zurückzuziehen. Er tat dies nicht, weil er von den Jüngeren verdrängt worden wäre – das hätte sich natürlich nie jemand gewagt –, sondern weil er als Mittfünfziger nun die Zeit für gekommen sah, den Staffelstab an die nächste Generation zu überreichen.

Die Tatsache, dass er sich aus der Organisationsleitung verabschiedete, bedeutete natürlich nicht, dass er sich aus der Politik an sich zurückgezogen hätte. Der Aktivismus war sein Leben, er ließ auch weiterhin keine Gelegenheit aus, für Deutschland auf die Straße zu gehen. Er blieb auch als „Alt-Neonazi“, wie ihn zum Schluss manche Medien betitelten, ein Vorbild für die deutsche Jugend in Sachen Aktivismus und Standhaftigkeit. Mir wird es wohl für immer unvergessen bleiben, wie er am legendären 1. Mai 2008 in Hamburg einen kleinen Stoßtrupp um sich scharte, mit dem er am Straßenrand fleißig Ordnungsschellen an aufmüpfige Gegendemonstranten verteilte. Auch im Jahr darauf hatte Siggi allen Grund zur Freude, als seinen Dortmundern der Coup gelang, am 1. Mai eine Spontandemonstration mit mehreren hundert Teilnehmern durch die Dortmunder Innenstadt durchzuführen. Die Medien kochten vor Wut und phantasierten im Nachgang einen angeblichen „Angriff“ auf eine Demo des „Deutschen Gewerkschaftsbundes“ herbei, den es tatsächlich nie gegeben hatte.

DIE RECHTE: Siggi steigt noch einmal in den Ring

Als der Innenminister des Landes NRW am 23. August 2012 das Verbot des Nationalen Widerstands Dortmund aussprach, hatte Siggi dafür nur Hohn und Spott übrig, er scherzte noch am Tag des Verbotes, dass dies nun sein siebtes Vereinsverbot sei, und es würde doch sowieso immer weitergehen. Nur zwei Monate nach dem Kameradschaftsverbot gründete sich in Dortmund ein Kreisverband der Partei DIE RECHTE. Siggi wurde Kreisvorsitzender und Spitzenkandidat für die Kommunalwahl 2014. Als er zusammen mit seinen Kameraden den triumphalen Einzug in den Dortmunder Stadtrat bei der offiziellen Wahlparty im Rathaus feiern wollte, staunten sie nicht schlecht, als ein alkoholisierter Demokraten-Mob ihnen plötzlich den Weg versperrte. Siggi ließ Gnade vor Recht ergehen und verzichtete darauf, sich den Weg ins Rathaus freizukämpfen. Stattdessen ließ er sich von seinen Kameraden auf dem Friedenplatz lautstark feiern. Nichtsdestotrotz erfanden die Medien hinterher das Märchen vom „Dortmunder Rathaussturm“. Diese Zeitungsente sollte es nicht nur auf die Titelseite der „New York Times“ schaffen, sondern auch weiter zur Legendenbildung rund um die Persönlichkeit „SS-Siggi“ beitragen.

Sechs Jahre lang war Siggi von 2014-2020 Dortmunder Bezirksvertreter für die Innenstadt-Nord

Das errungene Ratsmandat gab er bereits einige Monate später wieder ab, um sich voll und ganz auf sein Mandat in der Bezirksvertretung Innenstadt-Nord zu konzentrieren. Die Arbeit als Bezirksvertreter hat ihm viel Spaß gemacht. Bei den Partei-Stammtischen berichtete er seinen Kameraden immer wieder in humorvoller Weise, wie er die anderen Abgeordneten mit seinen Wortmeldungen auf die Palme brachte. Zwischenzeitlich hatte es Siggi nicht nur politisch, sondern auch privat in den Nazi-Kiez nach Dortmund-Dorstfeld verschlagen, wo er in der Thusneldastraße 3 in einer Wohngemeinschaft lebte. Siggi hat sehr gerne in Dorstfeld gelebt, und wahrscheinlich werden viele Menschen – egal ob Kameraden oder unpolitische Anwohner – noch lange ein gewisses Gefühl der Wehmut verspüren, wenn sie über den Wilhelmplatz gehen und dabei feststellen, dass er nie wieder auf „seiner“ Bank sitzen wird.

Die späten Aktivistenjahre und sein überraschender Tod

Zeit seines Lebens hatte ihn die politische Justiz immer wieder im Visier. Noch als über 60-Jähriger musste Siggi mehrere kurze Haftstrafen absitzen. Zumeist wurde er wegen Lappalien in den Knast gesteckt, für die andere Leute wahrscheinlich nicht einmal eine Anklage erhalten hätten. Doch auch dieses Katz- und Maus-Spiel mit der Justiz nahm Siggi immer gelassen, denn er wies dann einfach immer auf sein „Guthabenkonto“ hin, das er bei Gericht noch habe angesichts der vielen Straftaten, die er im Laufe seines Lebens begangen hätte und für die er nie erwischt worden sei.

Natürlich wusste sich Siggi auch weiterhin zu verteidigen, wenn er angegriffen wurde. Was er früher mit den Fäusten regeln konnte, das sollte später sein Spazierstock übernehmen, der bei seinen politischen Gegnern schnell so berüchtigt wie gefürchtet wurde. Als wir bei einer Kundgebung zum Europawahlkampf 2019 in Brühl von einem gewalttätigen Mob angegriffen wurden, holte Siggi mit seinem Stock zum Rundumschlag aus und blieb selbst unverletzt. Oder als ein stadtbekannter Linksextremist in grenzenloser Selbstüberschätzung seiner Kräfte Siggi in einer U-Bahn-Station zum Kampf herausforderte, fackelte er nicht lange und schlug den Antifaschisten mit seinem Gehstock in die Flucht.

„Die vier Musketiere“: v.l.n.r. Christian Worch, Dieter Riefling, Siggi, Thomas „Steiner“ Wulff auf einer Demonstration in Köthen 2018 (Quelle: Archiv Dieter Riefling)

Nach seiner letzten Haftentlassung zu Ostern 2021 entdeckte er nochmal eine ganz neue Leidenschaft für sich. „Siggis Infokanal“, so nannte er seinen öffentlichen Kanal im Messenger-Dienst „Telegram“, den er jeden Tag vom frühen Morgen bis in den späten Abend mit Nachrichten, Kommentaren, Bildern und Videos füllte. Der Infokanal bereitete ihm so viel Spaß, dass er sich kaum noch davon losreißen konnte. Ich hatte ihn bei dieser Gelegenheit einmal den „einzigen handysüchtigen Rentner Deutschlands“ genannt, und vielleicht stimmte das sogar.

In den letzten Wochen seines Lebens deutete zunächst nichts darauf hin, welche abrupte und dramatische Wendung am ersten Oktober-Wochenende plötzlich eintreten sollte. Im September hatte er noch für mehrere Tage Damenbesuch, er empfing Besuche von Kameraden und freute sich über den Wiederaufbau „seiner“ Bänke auf dem Wilhelmplatz.

Am Freitagabend, den 1. Oktober, saßen wir noch in geselliger, kameradschaftlicher Runde beisammen und sprachen darüber, wann wir die Arbeit an seinen Lebenserinnerungen wieder aufnehmen wollen. Am Samstagmorgen verspürte er dann starke Schmerzen im Bein und ließ sich ins Krankenhaus bringen. Dort sollte er zur Behandlung seiner Thrombose stationär aufgenommen werden. Samstagmittag meldete er sich noch bei einigen Kameraden und schrieb ihnen, auf welchem Zimmer er liegt und dass man ihn besuchen könne.

Am späten Nachmittag verschlechterte sich sein Zustand plötzlich rapide, und er wurde auf die Intensivstation verlegt. Die Ärzte diagnostizierten eine schwere Blutvergiftung, die leider bereits zu weit fortgeschritten war – sie konnten ihm keine Hoffnung mehr geben. Wenig später fiel er ins Koma, aus dem er nicht mehr erwachen sollte.

Von nah und fern strömten am Abend und in der Nacht Siggis Kameraden, Familienangehörige und Weggefährten zum Klinikum Nord, um am Sterbebett Abschied zu nehmen, ihm ein paar letzte Worte mit auf den Weg zu geben und sich für die gemeinsame Zeit zu bedanken. Am Sonntagnachmittag, den 3. Oktober 2021, hörte ein starkes Kämpferherz für immer auf zu schlagen.

Dortmund trauert um eine Legende: Die temporäre Gedenkstätte an der Ecke Emscher-/Thusneldastraße im Oktober 2021

Siggi: Ein Draufgänger mit Löwenherz

Wenn man versucht, Siggi als Persönlichkeit zu charakterisieren, dann steht man nicht etwa vor dem Problem, dass einem zu wenig einfallen würde – sondern dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Siggi war eine Kämpfernatur, ein Draufgänger und Desperado; er war politischer Soldat, heißblütiger Nationalsozialist und Revolutionär durch und durch; er war ein Frauenschwarm, Liebhaber und Gigolo; er war ein Hooligan, Weltenbummler und Lebemann – doch vor allem war er ein Mensch mit einem sehr großen Herz.

Siggi hatte für alle ein offenes Ohr, nicht nur für seine Freunde und Kameraden, sondern auch für wildfremde Leute, die ihn bei seiner täglichen „Bürgersprechstunde“ auf dem Wilhelmplatz besuchten und ihm dort ihr Herz ausschütteten. Hatte jemand private Probleme, Sorgen oder Liebeskummer, dann reichte meistens schon ein kurzes Gespräch, ein gutmütiges Lächeln und ein kleiner Drink, und die Welt sah schon wieder ganz anders aus. Siggi verstand es, auch die ernstesten Situationen mit einem flotten Spruch aufzulockern, er konnte versöhnen und Menschen zusammenführen; er war jemand, in dessen Gegenwart man sich einfach wohlfühlte.

Siggi konnte Menschen begeistern und motivieren, und er konnte Angehörige aus verschiedenen Spektren zusammenführen. Seit Mitte der 80er-Jahre brachte er Leute aus dem Fußballspektrum mit den politischen Kämpfern der nationalen Bewegung zusammen, was einen Vorbildcharakter für ganz Deutschland hatte. Siggi konnte Brücken bauen, Netzwerke bilden und Streitigkeiten schlichten – und wenn gar nichts mehr half, dann musste es eben die gute, alte Ordnungsschelle richten. Noch heute streiten sich Kameraden darüber, wem die Ehre gebührt – und als solche wird sie wirklich empfunden! – vom „Chef“ die meisten Ohrlaschen bekommen zu haben.

Siggi war ein Charakter, wie es ihn kein zweites Mal geben kann und auch nicht geben wird. Er ist nicht gestorben, denn er wird weiterleben in unzähligen Anekdoten, Erinnerungen und Geschichten. Wenn wir nun jedes Jahr am 3. Oktober zusammenkommen, werden wir die Erinnerung an ihn wachhalten, wir werden uns gegenseitig von unseren Erlebnissen mit ihm erzählen und wir werden auch nachfolgenden Kameraden, die ihn nicht mehr persönlich kennenlernen konnten, von ihm berichten. Wir werden von ihm erzählen und wir werden ihnen sagen, dass er einer der besten Menschen war, den man als Freund und als Kameraden an seiner Seite haben konnte.

Siggi, Danke für alles, was Du für Deutschland getan hast!

Erstveröffentlichung in N.S. Heute #27

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